Der Schweizversteher
Es ist ja viel einfacher
herumzustehen, zu trinken und zu plaudern, sodass die Neuankömmlinge auf einen
zukommen müssen. Man fühlt sich dann vielleicht ein bisschen wie das
Hochzeitspaar, das die Glückwünsche der Gäste entgegennimmt, aber lieber das,
als unter den Nachzüglern zu sein. Denn die müssen lange warten und viele Hände
schütteln, ehe sie sich entspannen dürfen und etwas zu trinken bekommen.
Das mag bei einem Volk, das für seine
Zurückhaltung berühmt ist, ja ziemlich merkwürdig wirken, für die Schweizer ist
es aber normal. Und wenn Sie meinen, dass die Gäste über Gebühr unter Druck
gesetzt werden, sollten Sie bedenken, dass die Gastgeber all die vielen
Appetithäppchen bereitstellen mussten, die sich leicht und schnell verzehren
lassen â schlieÃlich brauchen die Gäste eine Hand für das Glas und die andere
zum Händeschütteln. Wenn beide Hände beschäftigt sind, kann man nicht Hände
schütteln, und dann würde die Schweizer Gesellschaft zusammenbrechen. Also
tragen die Gastgeber auch einen Teil der Bürde. Dagegen sind
MehrfachbegrüÃungen doch ein kleiner Preis.
Neunzehn Hände schütteln, 19
BegrüÃungsfloskeln und 19-mal
den Namen nennen â das hört sich anstrengend an, aber um die Sache zu
beschleunigen, hat dieser Wahnsinn Methode. So wie es verschiedene
BegrüÃungsworte gibt â in der Schweiz ist
Grüezi
 die Norm â, so gibt es unterschiedliche
BegrüÃungsebenen. Die unterste findet bei völlig Fremden Anwendung: Hände
schütteln, Vorstellung, Lächeln möglich, aber nicht nötig, Weitergehen. Bei
Leuten, die Sie schon mal gesehen haben, dürfen Sie ruhig kurz stehen bleiben
und ein paar nette Worte wechseln. Aber Sie wissen beide, dass es unschicklich
wäre, länger zu plaudern, solange Sie noch nicht alle anderen begrüÃt haben.
Bei Freunden ersetzen drei Wangenküsschen (rechts-links-rechts) und ein âWie
gehtâs dir?â das Händeschütteln, wobei klar ist, dass Sie sich nach Abschluss
der BegrüÃungszeremonie immer noch richtig unterhalten können. Den Schweizern
ist das Ritual in Fleisch und Blut übergegangen, denn sie machen es so, seit
sie sprechen und laufen gelernt haben, aber für unwissende Fremde ist es
gewöhnungsbedürftig.
Und als wäre das alles nicht schon
schwer genug, musste ich mich als englischsprachiger Ausländer auch noch mit
den Anreden du und Sie herumschlagen. Eigentlich sind es ja drei, aber die
dritte ignorieren wir erst mal. Wenn sich jemand als Herr oder Frau Soundso
vorstellt, dann heiÃt es Sie; Vornamen bedeuten: Man darf sich duzen. Du statt
Sie zu sagen, ist ein unverzeihlicher Affront, für Deutschlernende trifft es
sich aber gut, dass die Verbform beim Sie unkompliziert ist, es fällt also
leicht, superhöflich zu bleiben. Irgendwann bekommt man dann das Du angeboten
(oder möchte es selbst anbieten), ein klares Zeichen, dass es mit der
Freundschaft vorangeht. Danach darf man die Person nie wieder siezen, denn das
würde ein abruptes Abkühlen der Freundschaft signalisieren.
Wer diese Regeln vergisst, handelt
sich unverhältnismäÃigen Ãrger ein. Einmal bot ich in der Tram einer alten Dame
meinen Sitzplatz an, vermasselte aber meine gute Tat durch unabsichtliche
Verwendung des Du. Da blieb sie nicht nur stehen, sondern las mir zudem die
Leviten, weil ich so frech und unhöflich war. Andererseits habe ich bestimmt
schon unzählige Menschen gesiezt und somit gekränkt, nachdem wir uns schon auf
das Du geeinigt hatten.
Bei mehreren Freunden kommt die
dritte Form, das
Ihr
ins Spiel, was die Sache für Engländer noch komplizierter
macht. Da ist es doch einfacher, beim förmlichen Sie zu bleiben.
Die Schweizer Kunst des Small Talk
ist nicht schwer, weil das Themenspektrum wirklich sehr überschaubar ist. Viele
Schweizer ziehen es vor zu schweigen, statt über Verkehr oder Ferien oder Stars
zu schwatzen. Und sie vermeiden es garantiert, nach allzu persönlichen Dingen
wie Familienstand, religiösen Ansichten oder dem Preis Ihres Hauses zu fragen,
und möchten natürlich auch selbst nicht danach gefragt werden. Privat- und
Berufsleben werden streng getrennt, und wer beides unbekümmert vermischt,
erntet Argwohn. Höflich ja, freundlich stets, aber die Lebensgeschichte in den
ersten Stunden (oder selbst Monaten) des
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