Der Schweizversteher
Bürgern
begangen wird. Allerdings ist das nicht der beste Zeitpunkt für einen Ausflug
zum Rütli, denn am 1.
August hält dort die Bundespräsidentin oder der Bundespräsident eine Rede, bei
der es in den letzten Jahren schon zu schweren Störungen durch Rechtsextreme
kam. Besser besucht man die Wiese an einem Sonnentag im Juni und genieÃt nicht
nur die Geschichte, sondern auch die Landschaft.
Bei einem Blick auf die Landkarte übersieht man den
Urner See leicht, denn er ist eigentlich nur eine Art Meerbusen des
Vierwaldstätter Sees, ein Wortungetüm, das englischsprachige Touristen erst gar
nicht in den Mund nehmen. Sie begnügen sich stattdessen mit einem Eis am Stiel
und nennen den See schlicht nach der schönen Stadt an seinem Nordufer Lake
Lucerne.
Das malerische Luzern wird gern und oft von Reisenden
besucht. In den kopfsteingepflasterten Gassen und auf den Plätzen drängen sich
Besuchergruppen, die ihre Kameras auf die Wandmalereien richten. An der Kapellbrücke,
dem berühmten Wahrzeichen der Stadt, herrscht ebenfalls Gewusel. Den wenigsten
der Hobbyfotografen dürfte allerdings klar sein, dass sie nur den Nachbau der 1993
durch einen Brand weitgehend zerstörten Originalbrücke, einer gedeckten
Holzbrücke aus dem 14.
Jahrhundert, ablichten. Fotogen ist sie trotzdem, mit dem imposanten
achteckigen Wasserturm auf der einen Seite und dem mächtigen Pilatusmassiv im
Hintergrund. Direkt gegenüber von diesem idealen Aussichtspunkt kann man einen
hübschen Schaufelraddampfer besteigen und nach Süden zum Rütli fahren. Ein
langes Tuten der Schiffssirene und ein lautes Zischen des Dampfkessels, und los
geht es über den tiefblauen See.
Eleganter kann man wohl kaum reisen als mit einem
schimmernd weiÃen Dampfschiff, dessen zwei groÃe rote Schaufelräder durchs
klare Wasser pflügen und dessen Holzdecks in der Sonne glänzen. Man fühlt sich
wie in einem Agatha-Christie-Roman oder einem Merchant-Ivory-Film, ich rechnete
schon fast mit Maggie Smith samt Sonnenschirm. Auf dem Schiff ahnt man kaum,
dass man sich auf dem zweitgröÃten See der Schweiz befindet, dessen bizarre
Umrisse mit all den Buchten, Beulen und Engpässen seine wahren AusmaÃe
kaschieren. Wie ein kleines Gewässer wirkt er vor allem im südlichen Teil, wo
die Klippen und Berge dem See so nahe rücken, dass kaum Siedlungsraum bleibt.
Die gemächliche Fahrt führt im Zickzackkurs zu Dörfern
an beiden Ufern, sodass es über zwei Stunden dauert, ehe wir die letzte
Landzunge umschiffen und in den Urner See gelangen. Das fällt nicht weiter auf,
denn weder ein Kanal noch eine Grenze oder eine Veränderung der Wasserfarbe
markiert den Wechsel. Im Grunde befinden wir uns noch auf demselben Gewässer,
aber man erwähne das bloà nicht gegenüber den braven Bürgern des Kantons Uri;
sie sind nämlich sehr eigen, was ihren See betrifft. Am Rütli steigen auÃer mir
nur drei Passagiere aus, der Geburtsort der Schweiz ist anscheinend weder für
Touristen noch für Schweizer eine groÃe Attraktion.
Von einer Wiese weit und breit keine Spur, es gibt
überhaupt nicht viel zu sehen auÃer einem Haufen Felsen, Bäumen und Wasser. Von
der Anlegestelle führt nur ein Serpentinenweg bergauf. Zehn Minuten später
stehe ich am Rütli und bin ziemlich unbeeindruckt. Vor mir erstreckt sich eine
lange, eher unförmige und noch dazu abschüssige und buckelige Weide; allerdings
ein durchaus idyllischer Anblick mit den grasenden Kühen und den aus dem Boden
ragenden Felsbrocken. Dass es sich hier um einen Ort von nationaler Bedeutung
handelt, sieht man lediglich an dem Fahnenmast mit der riesigen Schweizer
Fahne. Wären wir in Amerika, befände sich hier ein Nationalpark mit
Besucherzentrum, Souvenirshop und Café; oder auch nicht, denn die Wiese ist
nicht mit dem Auto erreichbar. In GroÃbritannien wäre das Gelände zum Schutz
des heiligen Rasens eingezäunt, und man müsste bezahlen, um ihn betrachten und
dem Audioguide lauschen zu dürfen, ehe man am Ausgang ein
Erinnerungsgeschirrtuch kauft. Wenn manâs recht bedenkt, ist es eigentlich ein
netter Zug, dass die Schweizer nicht viel Aufhebens darum machen und sich
folglich, abgesehen vom Fahnenmast, in den letzten 700 Jahren hier nicht viel
verändert hat. Und der groÃartige Blick auf See und Berge ist ohnehin zeitlos.
Vielleicht haben sich die drei
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