Der Schwur der Königin
sich. Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war ich noch ein Kind gewesen und hatte nicht bewusst wahrgenommen, wie groß er war. Jetzt schien er endlos vor mir aufzuragen, ein eigenartiger, missgestalteter Mann – sein Kopf gekrönt von einem roten Turban maurischer Art, der viel zu groß für seinen schlaksigen Körper wirkte, und darunter hervorquellend die rotgoldenen, zotteligen Haare, die ihm bis auf die schiefen Schultern fielen. Bekleidet war er mit einem schwarz und golden bestickten Kaftan, unter dessen Saum die gebogenen Schnäbel von roten Lederschuhen hervorlugten, in denen seine merkwürdig zierlichen Füße steckten.
Ich vergaß meine Erziehung und starrte ihn unverwandt an. Zwar hatte ich gehört, dass er meinem Vater ähnelte, doch ich konnte mich kaum noch an den toten König erinnern, der uns gezeugt hatte, sodass ich mir den Kopf vergeblich über irgendwelche äußeren Gemeinsamkeiten zerbrach.
»Du … du bist schön«, sagte Enrique in einem Ton, als hätte er sich bis zu diesem Moment keine Vorstellungen von meinem Erscheinungsbild gemacht. Ich blickte ihm in die traurigen bernsteinfarbenen Augen, die unter den schweren Lidern ein wenig hervortraten. Mit seiner flachen Nase, den rundlichen Wangen und den fleischigen Lippen war er gewiss nicht ansehnlich; einzig seine beeindruckende Größe verlieh ihm eine gewisse Würde. Und was Kaftans betraf, gehörten sie zwar zur Garderobe jedes Kastiliers, zumal sie in den langen Sommermonaten für willkommene Abkühlung sorgten, doch unsere Mutter hatte uns diese Tracht nur in der Abgeschiedenheit unserer Gemächer erlaubt. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was sie gesagt hätte, wenn sie mitgereist wäre und den König an ihrem ersten Abend am Hof in der Tracht der Gottlosen gesehen hätte. Doch Enriques schüchternes Lächeln ließ mich das vergessen. Als ich mich vorbeugte, um ihm die mit dem Siegelring Kastiliens geschmückte Hand zu küssen, schloss er mich unbeholfen in die Arme. Er roch nach Moschus – wie ein ungewaschenes Tier. Aber das störte mich nicht, obwohl ich wirklich eine feine Nase hatte. Andererseits war mir klar, dass man bei einem König diesen Geruch nicht unbedingt erwartete.
»Willkommen, Schwester«, sagte Enrique. »Willkommen an meinem Hof.«
Um uns herum brachen die Höflinge in begeisterten Jubel aus. Die Hand weiter um meine geschlossen, wandte sich Enrique dem Saal zu. »Wo ist mein Bruder, der Infant Alfonso?«, rief er, worauf aus den dicht beieinanderstehenden Höflingen mein kleiner Bruder Hand in Hand mit einem gedrungenen Halbwüchsigen vortrat. Alfonsos Gesicht war gerötet, ein verräterisches Zeichen, dass er unverwässerten Wein getrunken hatte – was ihm bisher verboten gewesen war. Sichtlich war jedes Bedauern über den Abschied von unserem Zuhause einer Begeisterung über unsere neue Umgebung gewichen. Nirgends vermochte ich Don Chacón auszumachen, obwohl er sich normalerweise nie weit von Alfonsos Seite entfernte.
»Schau nur, wer hier ist, Isabella!« Alfonso deutete mit dem Kinn auf seinen Gefährten. »Unser Cousin Fernando aus Aragón. Wir teilen uns ein Gemach, aber die ganze Zeit fragt er nur immer nach dir.«
Fernando verneigte sich vor mir. »Eure Hoheit«, begann er mit flackernder Stimme, »das ist eine große Ehre für mich, auch wenn ich bezweifle, dass Ihr Euch an mich erinnert.«
Da täuschte er sich. Ich entsann mich sehr wohl – oder wusste zumindest seinen Namen. Freilich hätte ich ihn hier, am Hof meines Halbbruders, wahrlich nicht erwartet.
Obwohl unsere Sippen über unsere Vorfahren das Trastámara-Blut teilten, hatten Feindschaften und Raubgier Kastilien und Aragón in einen jahrhundertelangen Krieg gestürzt. Eifersüchtig wachten die Könige von Aragón über ihr kleineres, unabhängiges Reich, was einen Dauerkonflikt mit Frankreich und ständiges Misstrauen gegen Kastilien zur Folge hatte. Ihr Argwohn war freilich nicht so stark ausgeprägt, dass sie Hochzeitsallianzen verschmähten, über die sie hofften, eines Tages einen aragonischen Prinzen auf den kastilischen Thron zu bringen.
Ein Jahr jünger als ich, stammte Fernando aus der zweiten Ehe seines Vaters, Juan von Aragón, in diesem Fall mit der Tochter des kastilischen Erbadmirals, Juana Enríquez. Fernando war auch der Thronfolger, da sein älterer Halbbruder schon vor Jahren gestorben war. Damit kannte ich zwar die nackten Fakten über Fernandos Familie und Blutlinie, doch war mir nie etwas übermäßig
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