Der Schwur der Venezianerin
ein paar Zeilen weiter, „das nervöse Temperament neigt zu Gefräßigkeit, Neurosen und Lebensüberdruss.“
In dem flackernden Kerzenschein schaute sie ein wenig traurig auf ihren schlafenden Francesco und dachte darüber nach, ob die soeben gelesenen Zeilen für ihn geschrieben waren. Leise legte sie sich an seine Seite und küsste seine nackten Schultern. Er drehte sich um und nahm sie in die Arme.
„Das ist nichts für dich“, sagte er und schaute sie gar nicht mehr so verliebt an. „Ich hab dich seit langer Zeit beobachtet. Das verstehst du nicht und es ist nichts für eine Frau. Kümmere dich um deine Schönheit und sorge dafür, dass du gesund bleibst.“ Dann schlief er wieder ein.
Es bedrückte sie, als sie erfuhr, von ihm seit langer Zeit beobachtet worden zu sein. Und sie hatte es noch nicht einmal bemerkt. Er sah sie jetzt als geheime Spionin an. Umso mehr reizte sie sein Verbot.
Mein Freund, dachte sie, dann werde ich eben die Erste sein, die es versteht. Bianca nahm sich vor über Francesco hinaus zu wachsen, bald mehr zu sein als er.
Geheimnisvoller Besuch
Die kleine Meinungsverschiedenheit sollte sie nicht weiter belasten. Sie würde schon einen Weg finden, an die erwünschten Geheimnisse heranzukommen. Dagegen erwachte ein Gefühl in ihr, das sie bisher nicht gekannt hatte. Seit einiger Zeit beobachtete sie verstärkt, dass ihr Francesco auch anderen Mädchen schöne Augen machte.
Noch schien seine Liebe zu ihr unermesslich. Wer aber sagte, dass der Mann, dessen sexuelle Gier unerschöpflich war, der mit einer Kaiserschwester verheiratet war, sich nicht noch andere Liebschaften hielt? In Florenz zumindest pfiffen es die Spatzen von den Dächern.
Mit weiblicher Eifersucht fragte sie sich nach seinen Wünschen, nach seinem Vorhaben. Liebte er nur sie, wie er es vorgab? Hielt er sich andere Frauen zur Liebe bereit. Sie kannte die Antwort nicht, seine Beteuerungen klangen allzu oft nicht überzeugend. Bianca versuchte, auf eigene Faust an die Wirklichkeit heranzukommen. Würde sie für die Eifersucht keinen Grund finden, könnte sie in dieser Nacht noch mit ihren Studien beginnen.
Sie schlich bei völliger Dunkelheit in den Kleidern des herzoglichen Pagen über die dunklen Straßen. Nur sanft schimmerten ab und an die goldfarbenen Knöpfe der Livree im Widerschein einer weiter entfernt hängenden Fackel. Das trübe Wetter packte den nächtlichen Besucher in ein dunkles Gewand, verbarg ihn vor den Augen der Menschen, die eifersüchtig oder zufällig die Wanderer auf den Straßen beobachteten. Seinen weichen Schal hielt sich der Page vor das Gesicht. Er schützte sich vor den teuflischen Ausdünstungen von Kot, Urin und Unrat jedweder Art. Ärgerlich stieß er ab und an einen leisen Fluch aus, wenn er dem stürzenden Inhalt eines aus den oberen Etagen ausgekippten Nachttopfes gerade entkommen war.
Es war auch sonst bedrohlich genug des Nachts alleine durch die Straßen von Florenz zu eilen. Allerlei Diebesvolk, kleinere und größere Verbrecher verunsicherten jeden Wanderer. Nur Gestalten mit einer geheimen Botschaft oder solche, die ihre Absichten zu verbergen hatten, machten sich um diese Zeit auf den Weg.
Eine Hand des geheimnisvollen Botschafters hielt unter seinem Wams einen Dolch fest umklammert. Im Zweifel galt es, sich damit sofort zu verteidigen. Nächtliche Angreifer machten kein langes Federlesen um ein Leben. Der Gedanke allein ließ Bianca erschauern. Sie zurrte das Wams enger, umklammerte den Dolch fester und eilte schneller ihrem Ziel entgegen. Niemand ahnte ihre Absichten, fragte nach dem Woher und Wohin. Über die Plätze und Straßen huschte sie entlang der Piazza della Signoria zum Palazzo Vecchio. Dort verschwand sie hinter einer Häuserreihe, tauchte erst wieder hinter dem Palazzo auf. Da stellten sich zwei Gardisten mit aufgestellten Hellebarden dem geheimnisvollen Botschafter in den Weg, hielten ihm eine Fackel vor das Gesicht, salutierten und ließen den Besucher durch die schmale und niedrige Tür in den Palazzo eintreten. Ein Gardist begleitete sie mit der Fackel durch einen langen, finsteren Flur, die steinerne Treppe hinauf in die erste Etage. Dort steckte er die Fackel in einen eisernen Halter und zog sich diskret zurück.
Leise und unendlich langsam öffnete der verkleidete Botschafter eine fast nicht erkennbare Geheimtür und schaute spähend in einen kleinen Raum.
Auf jedem der beiden Tische an den schmalen Seiten des Studiolo flackerten trübe ein paar
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