Der Schwur der Venezianerin
sich leise erhob und auf das Regal an der rückwärtigen Wand schaute. Bis heute hatte sie aus Unkenntnis nicht einen einzigen Blick dafür geopfert. Jetzt offenbarte sich ihr in dieser glücklichen Stunde der Schatz der Weisen, die ungelöschte Sehnsucht nach der Vollendung.
Sie fand ‚Dschabir ibn Haijan‘, ‚Demokrit‘, die Schriften der Ägypter und der alten Araber, sie las unverstandene Begriffe wie „fraktionierte Destillation“ „Oxidationsofen“, „Sublimationsapparat“ und „Athanor“. Es schien, je mehr sie las, desto weniger verstand sie, desto verwirrter wurde sie. Bei allem aber lenkte sie ein einziger Gedanke: „Ewige Schönheit und ewige Jugend“. Hier lag die Auflösung aller Rätsel und Wünsche. Ein drittes Ziel, von dem sie bisher nicht einmal geträumt hatte, könnte hier seine Verwirklichung finden. Sie wäre bald nicht nur an der Seite eines Herrschers, und sie beherrschte ihn. Darüber hinaus könnte sie bald das Leben beherrschen. Dieses Ziel prägte sich Bianca wie ein Brandzeichen ein.
Hinter jedem nicht verständlichen Wort in den Schriften erkannte sie die geheimnisvolle Formel ihres Strebens nach Unvergänglichkeit. Und sie schaute jedes Wort nach. Es gab da ein spezielles Wörterverzeichnis, ein kostbares Werk, wie er einmal versichert hatte, in dem sie alle Erklärungen zu den fremden Wörtern fand. Und Bianca machte reichlich Gebrauch davon.
Das Zauberwort Alchemie schuf in ihr die über ihren Glauben hinausgehende Kraft der geheimnisvollen Magie. In einem kühlen und kühnen Gedanken entschied sie, all dies zu lernen, all dies zu wissen. Sie wollte ihm gleich sein, so gut sein wie er. Vor allem entschied sie, an seine bisherigen Lösungen heranzukommen, seine Experimente zu verstehen, seine Fehlschläge zu vermeiden.
Wenn sie Francescos Wissen erreichen würde, könnte sie darauf aufbauen. Längst war Bianca davon überzeugt, dass ihr Geliebter in den Ergebnissen seiner Forschung weiter war, als er ihr gegenüber zugeben wollte. Oft genug erschien er bei ihr mit einem Glanz auf dem Gesicht, der von einer höheren Erkenntnis kündete.
Jetzt trat sie einen Schritt von dem Regal mit all diesen vielen Werken zurück. Zumindest für den Augenblick sorgte die Distanz für ein klares Ziel. Mit den Einzelheiten müsste sie sich später auseinandersetzen. Ihre momentane sexuelle Befriedigung verschaffte ihr die Ruhe, sich den klaren Gedanken hinzugeben. Aus ihrem Bauch heraus erfasste sie ein warmer Strom des nicht enden wollenden Glücks, der Bereitschaft, alles dazu beizutragen, den Kelch der göttlichen Umwandlung auszukosten bis zur Neige.
Sie würde alle diese Namen auswendig lernen, den Hermes und den Hippokrates, den Athenaeos und Dioscorides und selbst den Ostanes, den sie den Magier genannt hatten. Sie würde in das Paradies der Weisheiten eindringen, dem Geheimnis der Geheimnisse auf die Spur kommen.
Francesco ruhte erschöpft auf dem Kanapee, ahnte nicht die Wandlung seiner Geliebten in eine Suchende nach dem ‚Panacea‘, dem Allheilkraut, nach der ‚Tinctura Physicorum‘, der Universaltinktur, mit der ewig verjüngenden Kraft. Sie suchte in einer Schublade, steckte frische Kerzen in die Leuchter, verschaffte sich mehr Licht, mehr Helligkeit, in die Geheimnisse ihrer neuen Wissenschaft einzudringen.
Wie oft hatte sie in den Gärten des Palazzo Pitti und der Villen auf dem Lande vor den leuchtenden Rosen gestanden, hatte sie verglichen mit den verwelkten Blüten, die direkt nebenan die Köpfe hängen ließen. Die im Sonnenlicht sinnbetörend duftenden Blumen, die der Kunst eines Botticelli alle Ehre eingeräumt hätten, verausgabten sich im Glanz ihrer Pracht und Schönheit bereits nach wenigen Tagen.
Die verwelkten Blüten erfüllten sie mit Traurigkeit und Todesangst. All diese Veränderung, das Verwelken bis zum hässlichen Tod dürfte ihr nicht geschehen. Sie würde nun das alles Leben erneuernde Mittel finden, die Schönheit der Jugend, die immerwährende Kraft eines gesunden Körpers.
Und wie wahr die Schriften ihre eigene Welt wiedergaben, erkannte sie schon in dem ersten Buch, das sie willkürlich aufgriff und öffnete. Sie steckte einen Finger zwischen die Seiten in einem irgendwo und las von den Elementareigenschaften des melancholisch-nervösen Temperamentes. „Es ist von wechselvoller Stimmung, geht allem auf den Grund, doch neigt es zur Traurigkeit, Zornesausbrüchen und Furcht, ist grüblerisch und auch rachsüchtig“, und schon las sie
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