Der Schwur der Venezianerin
Unbekannte aufeinander zugehen, sich miteinander vergnügen und gemeinsam hinter Türen oder Toren, hinter Büschen oder in schaukelnden Gondeln verschwinden.
An dem Eingangstor Venedigs aus der Sicht des ankommenden Seefahrers, der Piazzetta, fand das überwältigende Schauspiel statt. Umrandet von einer Galerie aus Holzbrettern, umgeben von Tribünen und den mit rotem Brokat behangenen Fenstern und Loggien der Palazzi, bejubelte das Volk frenetisch die Schweinehatz. Zwölf Eber, gehetzt von einer Meute von Jagdhunden, versuchten verzweifelt dem Raubgesinde zu entkommen. Die Schweine hatten keine Möglichkeit zu fliehen. Bald waren sie eins nach dem anderen eingefangen und vor den Dogen gebracht, der in einer Loge in seinem Palazzo thronte. Mit einem glatten Streich hieb ein kräftiger Mann dem Schwein den Kopf ab und überreichte das tote Tier symbolisch dem Dogen, der es an seine Adligen und Edelleute weiter reichen ließ. Der nächste Schritt in der Kette des Fütterns lag bei dem gemeinen Volk. Die Adligen verschenkten das Fleisch an die Bürger. Unter großem Jubel machten sie sich über die Schweine her und retteten das Fleisch nach Hause. Die Begeisterung brandete erneut auf, wenn weitere Schweine in die Piazzetta getrieben und von den Hunden gehetzt wurden. Schweigend betrachtete man die symbolische Enthauptung und die Übergabe an den Dogen, während die Verteilung des Fleisches an das Volk einem Tollhaus glich.
„Gebt dem Volk Brot und Spiele …“, diese altrömische Weisheit murmelte Bianca unhörbar in die tosende Menge.
Bald waren alle Schweine geschlachtet und verteilt. Ein junger Stier wurde durch die Straßen gehetzt. Kreischend und ängstlich sprangen die Menschen entsetzt zur Seite, wenn der Stier durch die Gassen stob.
Aus dem gottgeweihten Leben, voller Demut und Ehrfurcht, das die Venezianer tagtäglich zu leben hatten, brach der abenteuerliche Überlebenswille aus. Todesmut unterstützte den unbekümmerten Einsatz. Man zählte zahlreiche Verletzte und selbst einige Tote. Doch wen kümmerte es?
Über die Piazza San Marco bummelte Bianca, ohne sich in irgendeiner Form den Menschen anzuschließen. Ein endloses Vergnügen bot sich ihr, und mit Begeisterung betrachtete sie die Inszenierung des gesamten venezianischen Lebens. Ein Leben aus mehreren Generationen, die Geschehnisse eines ganzen Jahres, Glück und Leid aus dem täglichen Dasein wurden gleichzeitig in Schauspielen, Maskenspielen, Tänzen und Gesängen aufgeführt. Man konnte sich jeder Ecke der Piazza San Marco zuwenden, um gleich überall neue Inszenierungen aus dem grauen Alltag zu erleben. Atemberaubend war die Geschwindigkeit, in der sie neue und immer wieder neue Lebensbilder aufzunehmen hatte.
Könige und Bettler, Bauern, Halunken, Narren, Türken, Briganten und Juden mit langen Nasen tanzten und spielten, ohne dass man erkennen konnte, welcher nun ein echter oder ein falscher war. Die Freiheit der Narren in einer inszenierten umgekehrten Welt half den Menschen, einmal die Rolle eines anderen Lebens anzunehmen. Ihr begegneten fast nur Masken. Doch gerade hinter dieser Maskerade verbarg sich die Welt. Unbekannt blieben die Träger. Der Wunsch der Verbindung nahm überhand, der Bettler suchte die Fürstin, der Edelmann hielt sich an das Bauernmädchen, ein Kardinal in weinroter Robe machte sich an die Kurtisane heran. „Aber wer war schon wer?“, fragte sie sich. Die strengen Sitten aus Kirche und Gesellschaft wurden mit Wucht gesprengt. Dieses Theater auf der Straße, das sich an diesem Karneval vieltausendfach erfüllte, spiegelte die Wirklichkeit des täglichen Lebens, das Bianca aus ihrem Palazzo kannte.
Das größte Spektakel sammelte Tausende von Menschen an, als der erste Seiltänzer ohne Netz, ohne irgendwelchem Auffang, auf dem dünnen Seil schräg vom Ufer des Canal Grande an der Piazzetta bis hinauf zum Campanile lief. Der Atem stockte dem Mädchen, als der Seiltänzer immer wieder ausrutschte und sich nur mit Mühe und Not an dem Seil festhalten konnte. Die Sensationslust der Bürger wartete auf den Absturz, doch erreichte er, wie die anderen vor ihm, die Spitze des Turmes unbehelligt.
Hätte jemand ihren Weg verfolgen können, hätte er sich über ihre Lebensart erstaunt gezeigt. In einer Welt voller Abenteuer und Vergnügungen, in einem Andrang von Versuchungen und Verführungen, entsagte sie dem sexuellen Bedürfnis, sich irgendeinem hinzugeben und es mit ihm hinter einem Gartenzaun oder in einem
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