Der Schwur des Maori-Mädchens
Gedanken gar nicht zu Ende führen.
»Lily, wir müssen schnell zurück«, presste Ripeka gehetzt hervor, bevor sie sich im Laufschritt in Richtung Fluss aufmachte, zu dem mit Abstand prachtvollsten Haus weit und breit.
Lily folgte ihr und ahnte, dass Ripekas ungewohnte Aufregung mit dem Maori zu tun hatte, der ihnen gerade über den Weg gelaufen war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich merklich, denn sie hatte eine unbestimmte Ahnung, dass das alles etwas mit ihrem Vater und seinen dubiosen Geschäften zu tun hatte. Dazu passte, was sie neulich gerade erst auf dem Nachhauseweg erlebt hatte. Ein junger Maori hatte sich mitten auf dem Weg vor ihr aufgebaut und sie gewarnt, sie solle aus Wanganui abhauen, solange sie das noch könne. Als sie ihn mutig gefragt hatte, wie er dazu komme, sie auf offener Straße zu bedrohen, hatte er geantwortet: »Frag deinen Vater, Emily Carrington!«
Ihr war weniger die Drohung selbst unheimlich gewesen als vielmehr die Tatsache, dass er offenbar ihren Namen kannte.
Als Ripeka und Lily schließlich schnaufend und außer Atem das prächtige Haus betraten, kam ihnen June bereits gut gelaunt entgegen.
»Habt ihr alles für das Essen heute Abend mitgebracht? Wir müssen bald anfangen. Die Newmans kommen um sieben.«
Ripeka und Lily sahen einander verdutzt an.
»Nein, Mutter, wir haben noch gar nicht eingekauft. Ripeka hatte die Liste vergessen.«
Das brachte ihr einen dankbaren Blick der Maori ein.
»Aber nun los! Es wäre doch peinlich, wenn wir sie warten lassen müssten. Nachdem nun Vater schon wieder nicht dabei sein kann.«
Lily erschrak. Das hatte sie in der ganzen Aufregung um den fremden Maori völlig vergessen. Heute kam Edward zum Abendessen, und sie musste sich noch umkleiden, frisieren ...
»Komm, Ripeka, lass uns schnell gehen!«
Die Maori folgte ihr. Kaum dass sie aus der Tür waren, konnte Lily ihre Neugier nicht mehr länger zügeln.
»Jetzt sag mir endlich, was los ist. Warum wolltest du unbedingt zurück? Du sahst aus, als sei der Teufel hinter dir her. Hast du Sorge gehabt, der Fremde jage Mutter einen Schrecken ein?«
Ripeka seufzte schwer. »Ja, ich habe gedacht, er geht wirklich zu ihrem Haus. Du musst nämlich wissen, dass Junes Eltern in jener Nacht auch umgekommen sind. Sie ist also ebenso wenig erpicht darauf, überraschenden Besuch von Matui zu bekommen. Und du weißt doch, sie soll Aufregungen meiden«, redete sich Ripeka rasch heraus.
»Aber Mutter hasst die Maori doch nicht so vehement wie ...«, entfuhr es Lily. Sie hielt erschrocken inne.
»Du wolltest sagen, wie dein Vater? Habe ich recht?«
»Nein, also ... ich glaube nicht, dass er alle Maori ablehnt.«
»Genau. Ich arbeite für ihn, und er hat mir noch nie etwas Übles angetan. Ich glaube, er hat eher Schwierigkeiten mit den Leuten vom oberen Flussufer. Immer mehr von ihnen nehmen die neue Religion an, und wir wissen ja, was dieser Haumene predigt.«
»Nein, ich weiß es nicht, und mir sagt ja auch keiner, was los ist«, klagte Lily und erzählte Ripeka, was ihr neulich widerfahren war.
»Um Himmels willen, er hat dir offen gedroht?«, rief die Maori erschrocken aus.
»Dann sag mir doch: Was hat dieser Haumene gegen meinen Vater?«
»Er gehört zu den Vertretern der Stämme, die glauben, dass die Pakeha aus dem Land vertrieben werden müssen, bevor sie alles hier an sich reißen.«
»Tun wir das denn?«
Ripeka wand sich. Sie wollte Lily nicht ängstigen, wenngleich sie Henrys Geschäftsgebaren ebenso verurteilte, wie es die anderen Maori taten.
»Mister Newman und dein Vater haben bis zur Auflösung der New Zealand Company dafür gesorgt, dass die Siedler in Massen nach Neuseeland geschwemmt wurden. Und irgendwo mussten sie ja bleiben. So haben sie immer mehr Land von den Maori gekauft, was nicht immer ganz ordentlich abgelaufen ist.«
»Aber die Company gibt es doch schon seit sechs Jahren nicht mehr.«
»Richtig, aber Mister Newman und dein Vater sind damit zu den reichsten Männern der Gegend geworden und machen in kleinem Rahmen weiter damit, immer neue Siedler ins Land zu holen. Und die Maori haben Angst, dass sie eines Tages völlig verdrängt werden. Es sind jetzt schon mehr Siedler im Land als Maori. Bedenke doch nur, wie viele von uns durch die Krankheiten der Pakeha gestorben sind.«
»Und gehört dieser Matui zu den Maori, die mich bedroht haben?«
Ripeka zuckte innerlich zusammen,
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