Der Schwur des Maori-Mädchens
aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie war nur froh, dass Matui nicht zum Haus der Carringtons geeilt war, um seine verdammte Rache zu nehmen.
»Nein, nicht dass ich wüsste. Er kommt aus dem Norden. Das ist eine sehr persönliche Geschichte zwischen Henry und ihm. Aber nun komm, deine Mutter wird böse, wenn wir nicht rechtzeitig mit den Lebensmitteln zurück sind. Und mach dir keine Sorgen. Es wird keine Probleme geben. Außerdem sind wir doch ohnehin bald weit fort. In Dunedin soll alles friedlich sein, soweit ich gehört habe«, beeilte sich Ripeka zu sagen.
Lily stöhnte laut auf. Es war gar nicht so einfach, den Rat der Maori zu befolgen. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, dass sich ein Unheil über ihr zusammenbraute. Plötzlich wurde eine Ahnung zur Gewissheit, die sie bereits ihre ganze Jugend über begleitet hatte. Die Ahnung, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmte. Wie oft hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie sich ihren Eltern gegenüber manchmal auf merkwürdige Weise fremd fühlte. Wenn nicht die viel beschworene Ähnlichkeit mit der Großmutter gewesen wäre, sie hätte ernsthafte Zweifel gehegt, ob die beiden wirklich ihre Eltern waren. Allein vom Äußeren her. Und dann die Distanz, die sie zu ihrem Vater empfand. Es hatte ihr ja nicht einmal etwas ausgemacht, dass er die meiste Zeit getrennt von ihnen in Wanganui gelebt hatte. Seine lärmende, laute Art war ihr immer schon unangenehm gewesen, und seine abwertenden Äußerungen gegenüber den Maori berührten sie peinlich. Insofern konnte sie Ripekas Geschichte nachvollziehen. Aber wieso hatte ihr Großvater den Maori, der als Kind in seinem Haus aufgewachsen war, einfach verstoßen? Und was war mit seiner Schwester? Nein, hier stimmte etwas nicht, und Ripeka kannte das Geheimnis, doch diese machte ein solch abweisendes Gesicht, dass sich Lily nicht traute, sie mit jenen Fragen zu überhäufen, die ihr auf der Seele brannten.
So versuchte sie den ganzen Weg über, das ungute Gefühl, das in ihrem Bauch immer stärker grummelte, zu verdrängen und stattdessen an den heutigen Abend zu denken. An Edward, den charmanten jungen Mann, der ihr gegenüber noch niemals zudringlich geworden war. Aber der ihr gerade wegen seiner Zurückhaltung so gut gefiel. Und weil er unbedingt Arzt werden wollte. Etwas, das sich Lily auch von Herzen wünschte. Dann nämlich würde sie ihrer Mutter helfen können, aber sie wusste, dass dies abwegig war. Keine der jungen Frauen aus Wanganui wollte einen Beruf ausüben. Im Gegenteil, deren einziger Wunsch war es, die Junggesellen der Gegend zu umgarnen. Deshalb machte sich Lily auch keine allzu großen Hoffnungen, dass der umschwärmte Edward ausgerechnet sie erwählen würde. Und auch in Dunedin warteten bestimmt genügend junge Damen darauf, ihn zu heiraten. June behauptete zwar immer, dass ihre Tochter über die Maßen hübsch sei, aber darauf gab Lily nicht allzu viel. In den Augen ihrer Mutter war sie ohnehin stets die Klügste und Schönste. Lily aber fand die anderen Mädchen viel attraktiver. Sie wäre gern größer und kräftiger gewesen und wünschte sich dunkles Haar, wie die jungen Maori-Mädchen es hatten.
Lily seufzte noch einmal tief und versuchte sich vorzustellen, was sie tun konnte, um heute Abend möglichst vorteilhaft auszusehen. Zum großen Kummer ihrer Mutter machte sie sich in der Regel wenig aus modischer Kleidung und ordentlichen Frisuren. Doch heute war ein besonderer Tag. Edward kam zum Essen. Da fiel ihr das blaue Seidenkleid mit der weißen Spitze ein, das June ihr neulich hatte schneidern lassen. Und wenn sie ihre Locken aufstecken würde, statt sie offen zu tragen? Ja, das konnte sie sich vorstellen, aber so richtig Freude wollte bei dem Gedanken, sich als Dame herauszuputzen, nicht aufkommen. Viel aufgeregter war sie bei der Vorstellung, was Edward wohl sagen würde, wenn sie ihm den verletzten Kiwi zeigte, den sie wieder gesund gepflegt hatte. Sie hatte ihn dem Maul eines Hundes entrissen und anfangs nicht geglaubt, dass er überleben würde. Nun bewegte er sich sogar nachts schon wieder im Garten. Bald würde es Zeit, ihn wieder im Wald auszuwildern ...«
Lilys Augen leuchteten bei der Vorstellung, Edward diesen Vogel vorzuführen.
Wanganui, Februar 1864
Matui hielt sich hinter einem Kowhaibaum versteckt und beobachtete, wie die beiden Frauen das Haus verließen. Ein prächtiges Haus, wie er zugeben musste, dem der Hobsens nicht ganz
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