Der Schwur des Maori-Mädchens
unähnlich, nur viel größer.
Für einen kurzen Augenblick kamen Zweifel in ihm auf, ob er seinen Racheplan wirklich in die Tat umsetzen sollte. Das lag an seiner Begegnung mit dem Mädchen. Diese hatte ihn mehr berührt, als er zugeben wollte. Sie sah Makere zwar in keiner Weise ähnlich, aber vom Wesen her erinnerte sie ihn sehr an seine Schwester, bevor sie verrückt geworden war. Die Vorstellung, dass Henry jener Mann war, der Makere das Unvorstellbare angetan hatte, ließ ihn erschaudern. Aber war dessen Tod so wichtig, dass er in Kauf nahm, dieser jungen Frau, seiner eigenen Nichte, damit womöglich großen Kummer zu bereiten? Er wollte ihr auf keinen Fall wehtun. Doch dann ganz plötzlich kippte seine Stimmung, und der Hass schoss durch seinen Körper wie ein Feuerball, der alles verbrannte, was sich ihm in den Weg stellte. Er muss sterben, er muss!, beschloss Matui. Und er konnte das Mädchen nicht vor der Wahrheit schützen. Im Gegenteil, sie musste erfahren, was ihr Vater getan hatte. Es wäre doch ungeheuerlich, sie ausgerechnet im Haus des Mannes leben zu lassen, der seiner Schwester diesen entsetzlichen Schmerz zugefügt hatte. Ganz allmählich begriff er auch, dass Makere ihr Kind dem Ziehvater niemals freiwillig gegeben hatte. Nein, er musste es sich genommen haben. Gegen ihren Willen. Das Beste wird sein, wenn ich meine Nichte davon überzeuge, mir nach Kaikohe zu folgen, durchfuhr es ihn. Auch wenn sie nicht so aussieht, es fließt das Blut meiner Schwester in ihren Adern. Sie ist eine Maori. Dieser Gedanke ließ Matuis Herz höher schlagen. Ja, sie gehört zu uns, nicht in das Haus des Vergewaltigers ihrer Mutter, und ich werde sie nach Hause bringen.
Nun hielt Matui nichts mehr zurück. Er straffte seine Schultern und betrat energischen Schrittes die weiße Veranda. Ihn fröstelte. Die hölzernen Verzierungen waren exakt dem Haus der Hobsens in Russell nachempfunden. Er klopfte forscher an die Tür als beabsichtigt. Er erschrak, als ihm eine unförmige ältere Frau mit einem teigigen Gesicht die Tür öffnete. Das war doch nicht etwa ... ? Er konnte den Gedanken gar nicht zu Ende denken, weil June ihm nun gerührt die Hand entgegenstreckte.
»Matui, bist du es wirklich? Komm herein! Ich hätte dich kaum erkannt mit deinen ...« Sie deutete auf das Tattoo in seinem Gesicht.
Er nickte, ohne ihre Hand zu ergreifen, und folgte ihr stumm ins Haus.
»Was führt dich zu uns?«, fragte June und lächelte ihn an. Matui wollte bei diesem Anblick schier das Herz brechen. Sie war nie eine Schönheit gewesen, aber das? Er kannte viele Frauen in Kaikohe, die dick waren, aber sie waren es, weil sie das Essen liebten. Sie hatten schöne Gesichter und strahlten Lebensfreude aus. June hingegen war es zweifelsohne anzusehen: Das pure Unglück hatte sie dermaßen unförmig werden lassen.
»Ich suche Henry«, erklärte er mit belegter Stimme.
»Das tut mir leid, aber er ist...« June unterbrach sich und fuhr hastig fort: »Er ist gerade nicht im Haus. Doch sag mal, wie ist es dir in all den Jahren ergangen? Und wie geht es Maggy ? Das letzte Mal, als ich sie traf, war sie sehr sonderbar.«
»Was meinst du damit? Sie war sonderbar?«, fragte Matui, während ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Es drängte sich ihm jener Verdacht auf, der ihn die ganze Zeit über beschlichen hatte. June war unschuldig und ahnte weder etwas von dem Verbrechen ihres Mannes noch wer das Mädchen wirklich war, das in ihrem Haus lebte.
»Na ja, als ich sie das letzte Mal traf, hatte sie ein hellhäutiges Kind, meine spätere Tochter, auf dem Arm und verhielt sich ganz merkwürdig, als ich ihr das Baby für einen Augenblick abnehmen wollte ...« June rang nach Atem. Sie konnte nicht weitersprechen, sondern musste erst einmal Luft holen.
»Erzähl weiter!«, forderte Matui sie unwirsch auf.
»Sie rannte vor uns weg ...«
»Wer war das ? Vor uns?«
»Vater und ich, also mein Schwiegervater und ich. Der arme Walter war damals ja ganz krank vor Kummer über den Tod seiner Frau ...« Sie stockte und wurde rot.
Matui hatte äußerste Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. »Ich weiß, dass er mir die Schuld daran gab, aber ich hatte nichts damit zu tun. Mutter war zwischen die Linien geraten.«
»Ja, schon, doch sie hatte das Haus meiner Eltern verlassen, um dich zu suchen, weil sie dich nicht verlieren wollte.«
Matui merkte, wie nahe ihm ihre Worte gingen, doch er zeigte ihr seine
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