Der Schwur des Maori-Mädchens
freue mich auf unseren Umzug. Ich kann es gar nicht mehr erwarten. Vier lange Wochen noch.«
Ripeka lächelte verschmitzt. »Hat das vielleicht etwas damit zu tun, dass auch Edward und seine Eltern nach Dunedin übersiedeln, und zwar schon übermorgen?«
Lily wurde rot. »Nein, daran habe ich gar nicht gedacht«, erklärte sie empört, weil sie sich ertappt fühlte. Natürlich hatte Ripeka nicht ganz unrecht. Dass Edward mit nach Dunedin kam, war sicher ein Grund, warum ihr der Abschied von Wanganui nicht schwerfallen würde, aber es gab noch einen weiteren. Sosehr sie den Wanganuifluss liebte, es zog sie in diese einwohnerreichste Stadt im Süden, über die sie schon so viel Spannendes gehört hatte.
Sie wollte Ripeka gerade gestehen, dass sie Edward, den jungen Mann mit dem dichten dunklen Haar, sehr nett finde, als die Maori stehen blieb und die Straße entlangstarrte, als habe sie einen Geist gesehen.
»Ripeka?«, sprach Lily sie an, doch die Maori reagierte nicht.
Ripeka glaubte zunächst, es handele sich um eine Täuschung, aber als der Maori mit dem tätowierten Gesicht näher kam und mit ebenfalls ungläubigem Gesichtsausdruck vor ihr stehen blieb, wusste sie, dass er es war.
»Ripeka?«, fragte Matui. »Was tust du hier in Wanganui?«
»Das wollte ich dich auch gerade fragen«, erwiderte sie und bemerkte aus den Augenwinkeln Lilys neugierigen Blick.
»Ich soll für ein neues Versammlungshaus in einem Maori-Dorf am Fluss die Schnitzereien machen.«
Seine Augen wanderten zu Ripekas Begleiterin. In seinem Blick stand genau die Frage geschrieben, vor der die Maori sich am meisten fürchtete: Ist das vielleicht Maggys Tochter? Und wenn, wieso ist sie hellhäutig und rotblond? Und warum ist sie Emily Carrington wie aus dem Gesicht geschnitten?
»Ich arbeite im Haushalt von June und Henry Carrington«, erklärte sie hastig.
Matui aber blieb stumm und musterte stattdessen Lily durchdringend.
»Das ist Lily, die Tochter der beiden.« Ripeka warf ihm einen flehenden Blick zu. Matui schien zu verstehen. Er reichte der jungen Frau lächelnd die Hand. »Guten Tag, Lily, schön, Sie kennenzulernen.«
»Und wer sind Sie?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ihr Großvater hat mich einst vor einem feindlichen Stamm gerettet, und ich habe meine Kindheit im Haus von Walter Carrington verbracht.«
Lily strahlte ihn gewinnend an. »Dann kennen Sie ja auch meinen Vater. Ach, was rede ich? Dann müssen Sie mit ihm aufgewachsen sein. Oh, der wird sich freuen, Sie zu sehen. Wissen Sie, wo wir wohnen? Schauen Sie dort das große Haus am Fluss. Das gehört uns. Wollen Sie schon vorgehen, oder soll ich Sie dorthin bringen?«
Ripeka aber bebte am ganzen Körper. Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Ich glaube, das ist keine gute Idee. Matui stand damals auf der Seite der Aufständischen, und im Verlauf der Kämpfe wurde auch deine Großmutter Emily getötet, nach der du benannt bist. Das haben ihm dein Großvater und dein Vater nie verziehen.«
Lilys Gesicht verdüsterte sich. »Wie lange ist das denn schon her?«
»Neunzehn Jahre«, erwiderte Matui ungerührt.
»Aber das kann man einander doch wohl verzeihen, das ist ja eine halbe Ewigkeit her.«
»Es gibt Dinge im Leben, die unverzeihlich sind«, mischte sich Ripeka mit heiserer Stimme ein.
»Genau«, entgegnete Matui kalt, während sich sein Blick an Lilys rotblonden Locken und ihrem hübschen Gesicht festgesogen hatte. Und in diesem Augenblick traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Ich muss blind gewesen sein, dachte er. Was hatte nähergelegen als das? Nur wenige Zimmer hatten Henry von Makeres Bett getrennt.
»Wissen Sie, dass Sie große Ähnlichkeit mit Ihrer Großmutter haben?«, fragte er lauernd.
Lily lächelte. »Ja, das behauptet Mutter auch immer. Aber ist das ein Wunder? Ich bin ja schließlich ihre Enkelin.«
Ripeka geriet ins Schwitzen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, denn sie kam nicht umhin, in Matuis Augen zu lesen. Und darin stand geschrieben, dass er in diesem Augenblick ahnte, welchem fatalen Spiel er soeben auf die Schliche gekommen war. Und dass er offenbar auch nicht zögern würde, alle jene Wahrheiten auszusprechen, die Lilys bisheriges Leben in Schutt und Asche legen würden.
»Komm, Kind, wir müssen gehen«, befahl sie deshalb streng und fasste ihren Schützling am Arm, um ihn mit sich fortzuziehen.
»Ja, dann noch einen schönen Tag«, wünschte Matui
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