Der Schwur
kannst schon mal den Tisch decken.«
»Ich hab keinen Hunger«, sagte Sonja und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Nach drei Schritten hatte ihre Mutter sie am Kragen.
»Es interessiert mich nicht, ob du Hunger hast oder nicht. Du bist nämlich nicht der einzige Mensch auf der Welt. Wasch dir die Hände und deck den Tisch!«
Noch mehr Ärger konnte sie wirklich nicht gebrauchen. Also wusch sie sich die Hände und deckte den Tisch für alle sechs Familienmitglieder. Dabei horchte sie ständig in den Flur, wo Corinna noch immer telefonierte.
»Ja ... nein, wirklich?« Albernes Kichern. »Das sagst du immer. Aber es liegt wirklich nur am Lidschatten. Nein ... nein, bin ich nicht.« Und so weiter und so fort. Sonja versuchte sich an den Namen des derzeitigen Gesprächspartners zu erinnern. Letzte Woche war es noch irgendein Mehmet gewesen, der Corinnas blonde Haare »echt voll krass« gefunden hatte. Wenn diese Woche die strahlendblauen Augen dran waren, war der Typ am anderen Ende der Leitung vielleicht auch schon ein anderer.
»Paul!«, rief die Mutter aus der Küche. »Paul, komm raus aus deiner Höhle und hilf deiner Schwester!«
Das rief sie dreimal, bevor Paul seine Zimmertür aufriss und zurückschrie: »Ich bin mitten in einem Experiment! Das explodiert, wenn ich nicht dabeibleibe!«
»Was? Ich glaub, du spinnst! Sonja, sieh sofort nach, was der da treibt!«
Sonja war es eigentlich ziemlich egal, ob ihr kleiner Bruder sich und sein Zimmer in die Luft sprengte oder nicht. Sie hatte nur Angst um ihre eigene Zimmerwand mit den Pferdepostern. Also ging sie zu Pauls Zimmer. Seit Paul sich als Vierjähriger einmal eingeschlossen hatte und erst mithilfe der Feuerwehr befreit worden war, hatte seine Tür keinen Schlüssel mehr. Aber erfinderisch, wie er war, wusste er sich immer zu helfen. Sonja drückte die Türklinke herunter und erwartete, dass die Tür sich öffnete – aber sie blieb zu, und ihr eigener Schwung ließ sie schmerzhaft mit der Nase gegen das Holz knallen. Für einen Moment sah sie Sterne.
»Au! Paul, du Mistkröte, mach die Tür auf!«
Paul hielt es nicht für nötig, ihr zu antworten. Sonja kniete sich hin und spähte durch den Spalt unter der Tür. Viel sah sie nicht, nur einen kleinen dunklen Gegenstand, der indem Spalt steckte. Sie stand wieder auf und ging in die Küche, wo ihre Mutter gerade in einer riesigen Dampfwolke stand und Nudelwasser abgoss. »Er hat einen Keil unter die Tür gesteckt.«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Na, er muss ja trotzdem gleich zum Essen herauskommen. Sag Corinna, sie soll mit der Telefoniererei aufhören und an den Tisch kommen.«
Sonja hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen, und ihr Magen tat weh. Sie ging in den Flur und stieß Corinna leicht mit dem Fuß an. »Das Essen ist fertig.«
»Jaja«, sagte Corinna ungeduldig. »Bin gleich da. Was?«, fragte sie in den Hörer und lachte. »Ach, bloß meine blöde kleine Schwester. Du, Benni, ich muss aufhören, es gibt Essen. Ja, klar. Ja. Ich dich auch.« Albernes Kichern. »Noch mehr. Bis morgen! Aber ganz früh, ja? Ja. Ich dich auch. Tschüs!« Sie legte auf, rekelte und streckte sich genüsslich, und Sonja wurde wieder einmal peinlich daran erinnert, dass Corinna mit ihren sechzehn Jahren richtig hübsch war mit ihren langen blonden Locken, den blauen Augen und der tollen Figur. Perfekt geschminkt und einfach toll. Nicht so ein dünnes, dunkles Nichts wie Sonja selbst. Mit der Anmut einer Katze stand Corinna auf und schlenderte ins Esszimmer. Sonja wollte ihr gerade folgen, als das Telefon klingelte.
Sie erstarrte zur Salzsäule.
»Geh doch mal einer dran!«, rief ihre Mutter aus der Küche. Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte Corinna sich um. In diesem Moment ging die Wohnungstür auf, und ihr Vater und Philipp kamen herein. Das Telefon klingelte wieder und Sonja rannte aufs Klo und schloss sich ein.
An diesem Abend gab es weder Nudeln noch Fernsehen für Sonja. Stattdessen hagelte es Vorwürfe.
»Sollen die Leute denken, wir wären Asoziale?«
»Was hast du dir dabei gedacht?«
»Man muss sich ja für dich schämen!« Das war Corinna.
»Lasst sie doch in Ruhe!«, sagte Philipp. »Sie ist eben durcheinander, weil der Waldhof zugemacht hat.«
»Das ist doch kein Grund, sich so danebenzubenehmen! Und das bei Frau Vittori!«
»Und du sei mal ganz still«, sagte der Vater. »Du mit deinem frisierten Moped.«
»Das ist drei Jahre her und hat ja wohl nichts damit zu
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