Der Schwur
länger friedlich, sondern angespannt. Einige der Wölfe richteten sich leise knurrend auf.
»Deine Freundin Melanie?«, wiederholte Ganna langsam.»Und sie ist auf der Nebelbrücke vom Rücken des Taithar gestürzt? Das kann ich nicht glauben. Nachtfrost würde das niemals zulassen. Seid ihr angegriffen worden?«
Sonja biss sich auf die Unterlippe. »Nein. Melanie – sie sollte eigentlich nicht mitkommen. Asarié hatte es ihr verb–«
»Wer?« Ganna richtete sich kerzengerade auf. Ein Raunen ging durch das Zelt. »Sagtest du Asarié? Wann und wo hast du sie getroffen?«
»In unserer Welt«, sagte Sonja ängstlich. »Sie lebt da. Und sie sagte, sie hätte Nachtfrost als Fohlen aufgezogen. Stimmt das nicht?«
»Doch«, sagte Ganna. »Doch, es stimmt. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Erzähl von Anfang an, was dir widerfahren ist. Lass nichts aus.«
Also erzählte Sonja alles. Offenbar blieb ihr ja bei jedem Treffen mit Leuten dieser Welt nichts anderes übrig. Sie erzählte davon, wie Frau von Stetten ihr Nachtfrost weggenommen und sie ihn gesucht hatte, wie das Amulett Darians Hand verbrannt hatte, wie sie, Melanie und Darian mitten in der Nacht zum Gutshof gefahren waren und danach alles so schnell gegangen war, dass sie gar nicht mehr zum Nachdenken kam, bis sie und Nachtfrost plötzlich allein im Wald waren. Das Kleine Volk. Eok. Und dann der Ritt nach Chiarron und die scheußliche Flucht.
Die Elarim und die Tesca hörten zu und flüsterten einander gelegentlich etwas zu, aber als Sonja von ihrer Begegnung mit dem Spürer erzählte, wurden sie ganz still. In allen Gesichtern stand Schrecken und Furcht. »Erzähl weiter«, sagte Ganna leise, und Sonja tat es. Sie erzählte von dem Galopp durch den Winterwald, vom berstenden Eis und den Verfolgern, die ihr bis zum Fluss nachgejagt waren.
»Und dann sind wir hergekommen. Ich hab das Amulett, aber ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Ist Veleria nicht hier? Ich möchte es ihr zurückgeben.«
Ein kurzes Schweigen folgte. »Nein, Veleria ist nicht hier«, sagte Ganna dann. »Und es hätte keinen Sinn, ihr das Amulett zurückzugeben. Es hat dich erwählt; du musst es behalten.«
»Aber –« Ganna hob die Hand, und Sonja brach ab.
»Lass mich nachdenken«, sagte die alte Frau. »Dein Bericht weckt viele Fragen.«
Sonja wartete. Leicht fiel es ihr nicht – am liebsten wäre sie selbst mit tausend Fragen herausgeplatzt. Aber Ganna, die ihr bei ihrem letzten Besuch noch wie eine nette Großmutter vorgekommen war, hatte heute etwas an sich, das sie einschüchterte.
Endlich seufzte die alte Frau und wandte sich Sonja wieder zu. »Du hast großen Mut bewiesen, Yeriye Sonja. Nachtfrost hat uns ein wenig ausführlicher erzählt, wie du die Söldner des Spürers aufgehalten hast, damit er sich heilen konnte. Wir sind sehr stolz auf dich.« Leises, zustimmendes Murmeln kam von den anderen, und Sonja spürte, wie sie errötete. »Aber nun«, fuhr Ganna fort, »scheint es, als sei deine Aufgabe hier nicht so leicht zu erledigen, wie wir alle dachten. Ich habe geglaubt, Nachtfrost hätte dich nur ausgewählt, damit du ihm hilfst, Darian zurückzubringen. Aber nun scheint es gerade andersherum zu sein. Darian wurde ausgewählt, um dir das Amulett zu bringen. Und da du es nun nicht in Chiarron abliefern kannst, musst du es noch eine Weile tragen.
Wir ahnten schon, dass Chiarron unter die Herrschaft des Spürers gefallen ist. Zu Beginn des Winters zogen große Gruppen von Söldnern von Norden her durch die Berge.Sie trugen schon die Farben des grauen Lindwurms, und wir glauben jetzt, dass der Spürer dieses Wappen für sich gewählt hat. Kein uns bekannter Herrscher führt es. Sie gingen nach Chiarron. Kurz danach kamen sie wie ein Sturm über uns. Man behauptete, wir seien verantwortlich für das Verschwinden des Prinzen Darian; wir wurden in der ganzen Steppe gejagt, bis wir es schafften, uns hier festzusetzen.«
»Aber ich war doch nur eine Woche weg!«, sagte Sonja verwirrt. »Und als ich wegritt, war noch Herbst!«
»Ich glaube, dass die Zeit in unseren Welten nicht gleich schnell verläuft«, sagte Ganna. »Hier sind seit deinem letzten Besuch drei Monate vergangen.«
»Drei Monate! Aber –«
Ganna nickte. »Damals fürchteten wir, dass es bis zum Ausbruch eines Krieges nicht mehr lange dauern würde. Mit dem Überfall auf die Tesca hat der Krieg dann tatsächlich begonnen. Nur nicht gegen den Feind, den wir erwarteten.
Ich habe
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