Der Schwur
»Na, dann komm mit.«
Philipps Zimmer durfte außer ihm niemand betreten, nicht einmal die Eltern. Es war nicht besonders groß, und außer einem Bett, einem Schrank, einer Kommode und einem Tisch gab es keine Möbel. Aber trotzdem war es sehr voll, denn von der Decke hingen über vierzig Modellflugzeuge, die Philipp allesamt aus Holz gebastelt hatte. Dafür hatte er nicht etwa fertige Bausätze genommen, sondern monatelang Flugzeuge auf dem Flugplatz beobachtet, ihre Baupläne selbst aufgezeichnet und dann jedes Teil selber aus Sperrholz gesägt. Das Fliegen war Philippsgroßer Traum und eigentlich wollte er Pilot werden. Seine Flugzeuge waren ihm heilig, und Paul hatte vor ein paar Monaten die erste Tracht Prügel seines Lebens bekommen, nachdem er hier hereingeschlichen war und drei Flugzeuge aus dem Fenster geworfen hatte, um zu sehen, ob sie fliegen konnten.
Auch Sonja durfte normalerweise nicht hier herein, aber ganz selten machte Philipp bei ihr – und sonst niemandem – eine Ausnahme.
Er wies aufs Bett. »Setz dich da hin und zieh die Decke hoch, sonst bin ich nachher schuld, wenn du dich erkältest.« Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, ohne das Licht einzuschalten, und Sonja war froh darüber. Manche Dinge konnte man bei Licht einfach nicht erzählen. »Und jetzt erzähl mal. Was war da heute los?«
Und Sonja erzählte, was in den letzten beiden Tagen passiert war. Das Schwimmbad. Melanie. Der Waldhof. Die Tiere. Das graue Pferd. Wieder Melanie. Und die miese Bemerkung von Frau Vittori.
»Sie hat gesagt, du wärst kriminell!«
»Und da musstest du ihr natürlich die Blumen kaputtfahren.« Philipp nickte. »Klingt logisch.«
Jetzt musste sie doch lachen. Aber das Lachen verging ihr rasch wieder. Sie hatte Philipp nichts von dem Schatten erzählt. Sollte sie es tun?
Aber da gähnte er. »Hör mal, es ist spät. Mit Melanie musst du eben am Montag reden, das ist klar. Und was die Blumen angeht – das hat sie zwar verdient, aber bezahlen müssen wir sie trotzdem. Ich eine Hälfte, du die andere. Okay?«
»Aber ich habe sie doch kaputtgemacht. Nicht du.«
»Du hast sie meinetwegen kaputtgemacht, Kröte«, sagte er liebevoll. »Und jetzt schwirr ab ins Bett.«
Sonja schälte sich aus der warmen Bettdecke und stand auf. »Und was mache ich mit dem grauen Pferd?«
»Gar nichts. Das gehört irgendwem, und der wird es auch wieder einfangen. Das ist nicht deine Sache.«
»Aber es ist verletzt! Und –« »Und es kennt mich«, wollte sie sagen, schluckte es aber im letzten Moment hinunter.
»Darum wird sich ein Tierarzt kümmern.« Philipp gähnte wieder. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Sonja ging zurück in ihr Zimmer. Auf eine unbestimmte Art war sie unzufrieden. Zwar fühlte es sich richtig an, dass sie Philipp alles erzählt hatte, aber so ganz schien er sie doch nicht zu verstehen. Er hatte nun mal nicht so viel für Pferde übrig. Gar nichts, musste sie sich eingestehen, als sie in ihrem Zimmer stand und sich umschaute. Dutzende von Pferden schauten sie von den Postern herab an, in ihrem Regal drängten sich Pferdebücher, in der Ecke lagen Helm und Gerte ... das war ihr Leben, und Philipp, selbst wenn er ihr absoluter Lieblingsbruder war, konnte damit nichts anfangen.
Sie seufzte und kletterte wieder ins Bett. Aber die Aussprache hatte ihr doch geholfen: Sie war jetzt todmüde. Nach ein paar Minuten schlief sie ein, und falls sie in dieser Nacht etwas Ungewöhnliches träumte, konnte sie sich nachher nicht mehr daran erinnern.
Am nächsten Morgen regnete es, aber das hielt Sonja nicht davon ab, nach dem Frühstück aus dem Haus zu schlüpfen und mit Regenjacke und Reitstiefeln bewaffnet loszuradeln. Da ihre Eltern wieder in der Klinik waren, Philipp nichts sagte und Corinna sich mit »Benni« traf, konnte auch niemand sie aufhalten.
Unterwegs kam sie am »Schmitz-Kiosk« vorbei und dort sprang ihr eine Schlagzeile geradewegs in die Augen.
Frei laufendes Pferd im Forstwald
Sie bremste abrupt, und weil sie kein Geld hatte, las sie den Bericht nur, so weit er auf der ersten Seite zu sehen war.
Ein entlaufenes Pferd wurde am Samstag im Forstwald entdeckt. Ein Spaziergänger sichtete das Tier beim Ausführen seines Hundes. Er beschrieb es als abgemagert und verletzt. Die Farbe ist grau. Das Pferd trägt weder Sattel noch Zaumzeug und ist vermutlich aus einer Weide ausgebrochen. Nachfragen bei Landwirten und Reitbetrieben der Umgebung erbrachten bisher keinen Hinweis auf den
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