Der Schwur
an die Möhren und das Brot in der Tüte. Als sie den Beutel hob, warf das Pferd den Kopf hoch, ließ ihn aber gleich wieder sinken. Langsam ging Sonja auf das Tier zu. Als sie die schlimme Wunde aus der Nähe sah, hätte sie am liebsten geheult. Und auch die Striemen auf Brust und Flanken ...
»Du bist gepeitscht worden«, flüsterte sie. »Wer hat das getan?«
Der Graue schnaubte leise, wie zur Antwort. Ganz vorsichtig streckte Sonja die Hand aus. Als sie den schmutziggrauen Hals berührte, ging ein Zucken über das ganze Fell, und gleichzeitig spürte sie etwas wie einen leichten elektrischen Schlag. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Es tat nicht weh, war kaum mehr als ein Flimmern, aber trotzdem fühlte sie sich plötzlich seltsam, wie benommen. Sie schüttelte den Kopf, um das Gefühl loszuwerden. Der Graue schnupperte an der Tüte. Das war etwas, das Sonja verstehen konnte.
»Du hast Hunger, ja? Warte.« Sie öffnete die Tüte, langte hinein und holte eine Möhre heraus, die sie ihm auf der flachen Hand hinhielt. Er nahm sie vorsichtig mit den Lippen und zermalmte sie genüsslich. Ein paar kleine Stücke fielen ihm aus dem Maul und er schnupperte danach auf dem Boden und fraß sie alle einzeln. Als er nichts mehr fand, wandte er den Kopf und schaute Sonja an.
Eigentlich war an seinen Augen nichts Ungewöhnliches, sie sahen wie ganz normale Pferdeaugen aus. Trotzdem schlug Sonjas Herz plötzlich wieder bis zum Hals und sie schaute weg und kramte in der Tüte. »Möchtest du Brot?«
Das Pferd nahm ihr das alte Schwarzbrot von der Hand, ließ es fallen und schnupperte erst ausgiebig daran, bevor es zu fressen begann. Währenddessen holte Sonja Bjarnis Halfter aus dem Beutel. Sie wartete, bis das Pferd wieder den Kopf hob, und hielt ihm das Halfter hin.
Völlig überraschend scheute es davor zurück und humpelte ein paar Schritte von Sonja weg. Der Blick, den es ihr zuwarf, schien von brennendem Vorwurf erfüllt zu sein, und sie fühlte sich wie eine Verräterin.
»Es tut mir leid! Aber ich muss dich doch irgendwie zum Waldhof bringen, um die Wunde auszuwaschen! Hier habe ich doch nichts!«
Das Pferd spitzte die Ohren, schnaubte und schüttelte heftig den Kopf. Als Sonja einen Schritt nach vorne machte, drehte es sich um und humpelte weg von ihr. Sonja lief ihm nach. »Warte doch! Lauf nicht weg!«
Obwohl es sich sehr langam bewegte, konnte sie es nicht einholen. Sie holte eine Möhre aus der Tüte und warf sie ihm nach. Das Pferd schnaubte nur wieder und trottete weiter, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als die verschmähte Möhre aufzuheben und ihm zu folgen – bis sie plötzlich auf einer fahlgelben Wildwiese standen und Sonja die Mauern des grauen Hauses vor sich sah.
»Das gibt’s doch nicht«, flüsterte sie fassungslos.
Der Graue trottete um das Haus herum und blieb im Hof stehen, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Als Sonja ihn erreichte, wandte er den Kopf und schnaubte wieder. Diesmal war sie ganz sicher, dass er sie auslachte.
Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte wieder seinen Hals. Diesmal gab es keinen sonderbaren Energieschlag und sie fasste ein wenig Mut und kraulte das dreckige, nasse Fell.
»Was bist du nur für ein komisches Pferd? Du hast mich doch ganz genau verstanden, oder? Oder war das Zufall?«
Der Graue streckte die Nase nach der Tüte aus. Sonja musste lachen. »Also schön. Warte.« Sie holte den Futtereimer aus dem Stall – wobei sie sich beeilte, um die leere Box nicht länger als notwendig sehen zu müssen – und kippte den Inhalt der Tüte hinein. Während das Pferd geräuschvoll zu fressen begann, füllte sie einen zweiten Eimer mit Wasser aus der Regentonne am Haus, holte den alten Schwamm, den sie von zu Hause mitgebracht hatte, und näherte sich vorsichtig der vereiterten Wunde am Bein des Pferdes.
Bei der ersten Berührung mit dem nassen Schwamm zuckte der Graue zusammen, zog das Bein weg und legte die Ohren an. Doch gleich darauf stellte er das Bein wieder auf und fraß weiter; die Ohren blieben misstrauisch nach hinten gelegt.
»Es tut mir leid«, sagte Sonja unglücklich. »Ich will dir ja nicht wehtun, aber dieser ganze Dreck muss runter!«
Sie tauchte den Schwamm wieder ins Wasser und machte behutsam weiter. Sie konnte kaum glauben, dass das Pferd nicht weglief, nicht nach ihr schnappte und zu akzeptieren schien, dass sie etwas tat, das getan werden musste. Es war das seltsamste Pferd, das ihr je begegnet war.
»Du
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