Der Schwur
fest an und versuchte gar nicht erst, dieses Dahinrasen irgendwie zu beeinflussen oder etwa unter Kontrolle zu bekommen. Längst war der Waldhof hinter ihnen zurückgeblieben. Um sie herum wurde der Nebel dichter, die vorbeihuschenden Bäume wurden zu blassen, zerfaserten Gespenstern, einmal glaubte Sonja die fassungslosen Gesichter der Radfahrertruppe zu sehen, aber sie blieben zurück und verschwanden im Nebel.
Noch nie im Leben hatte sie solche Angst gehabt. Das war kein freundlicher Schutzgeist, auf dem sie da ritt, es war ein wildes, unzähmbares Wesen, das sie einfach mitgerissen hatte auf eine Reise, deren Ziel und Absicht sie nicht begriff. Was war mit dem grauen Pferd? War es den »Hell’s Devils« jetzt hilflos ausgeliefert? Aber alle Gedanken verschwammen und verflogen, als der Nebel immer dichter, der Galopp immer wilder wurde und sie alle Konzentration darauf verwenden musste, oben zu bleiben.
Plötzlich sah sie keine Bäume mehr, sondern nur noch gestaltloses Grau. Sie mussten den Wald verlassen haben. Himmel, die Straße! Kein Autofahrer würde rechtzeitiganhalten können! Sie zog an der Mähne. »Halt an! Du musst anhalten!«
Die Worte wurden ihr so rasch vom Mund weggerissen, dass sie sie kaum hören konnte, und das Tier hatte sie sicher auch nicht gehört, denn es galoppierte unverändert weiter, die Ohren flach an den Kopf gelegt. Sonja warf einen Blick nach unten. Sie glaubte Ackerboden zu erkennen, vielleicht Gras, aber sie jagten so schnell darüber hinweg, dass alles nur eine verwischte graugrüne Masse war. Das einzige Geräusch war jetzt der donnernde Hufschlag auf dem harten Boden.
Auf einmal veränderte er sich, klang wie auf Stein, hallte endlos wider – und dann waren sie darüber hinweg. Das musste die Straße gewesen sein, und sie lebten noch! Als sei damit ein Bann gebrochen worden, erzitterte das Tier plötzlich, und ein krampfhaftes Beben ging durch seinen großen dunklen Körper. Es wurde langsamer, fiel in Trab und blieb dann so abrupt stehen, dass Sonja von seinem Rücken geschleudert wurde und im Gras landete.
Der Aufprall riss ihr die Luft aus den Lungen. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Jeder einzelne Knochen tat ihr weh. Sie lag auf dem Rücken, japste nach Luft und sah aus den Augenwinkeln einen riesigen Schatten im Nebel, der sich langsam vorbeibewegte. Ein scharfer, durchdringender Tiergeruch lag in der Luft. War sie in einer Kuhherde gelandet? Mühsam richtete sie sich auf. Der riesige Schatten entfernte sich von ihr, aber die Luft war voller Geräusche wie von riesigen mahlenden Zähnen. Dann kam ein weiteres Geräusch, das ihr Blut erstarren ließ: ein tiefes Stöhnen hinter ihr.
Zitternd vor Schreck und Angst drehte sie sich nach ihrem Reittier um.
Es war riesig, größer als jedes Pferd, das sie je gesehen hatte. Sein Fell war tiefschwarz, übersät mit winzigen weißen Punkten wie Sterne am Nachthimmel. Mähne und Schweif schimmerten selbst im grauen Nebel wie Silber. Und auf seiner Stirn saß ein Horn wie aus reinem Licht. Doch es zitterte am ganzen Körper, der Kopf hing tief herab, und es konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Und als Sonja genauer hinsah, erkannte sie auch, warum: das schwarze, schweißglänzende Fell war voller blutiger Peitschenstriemen, und aus einer klaffenden Wunde am rechten Vorderbein strömte Blut. Sie kannte diese Verletzungen: vor gar nicht allzu langer Zeit hatte sie sie selbst ausgewaschen. Es waren nicht ein hässliches graues Pferd und sein Schutzgeist – es war die ganze Zeit nur ein einziges Tier gewesen.
Ein Einhorn.
Ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Das Tier stöhnte wieder, und seine Beine knickten ein. Eins wusste Sonja genau: Wenn es sich jetzt hinlegte, würde es nie wieder aufstehen. Ohne nachzudenken, stürzte sie zu ihm hin, griff in die silberne Mähne und zog kräftig daran. »Nein! Das darfst du nicht tun! Wenn du dich hinlegst, stirbst du!«
Das schwarze Einhorn warf den Kopf hoch, weit aus ihrer Reichweite. Die Mähne wurde ihr aus den Händen gerissen. Aber wenigstens blieb es stehen. Gleich darauf sank sein Kopf wieder kraftlos nach unten.
Wie hypnotisiert starrte Sonja auf das Horn. Es schien aus spiralförmig gedrehtem Knochen zu bestehen, war so lang wie ihr Arm und schimmerte in seinem eigenen Licht – so grell, dass ihr die Augen wehtaten. Endlich riss sie den Blick davon los und streckte vorsichtig die Hand nach demschwarzen Hals aus. Als sie ihn berührte, lief wieder dieser
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