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Der Schwur

Der Schwur

Titel: Der Schwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Vollenbruch
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gegenüberliegenden Rand des Abgrundes konnte sie nicht erkennen. Tief unter ihr wallte und brodelte der Nebel – oder waren es Wolken? Sie wusste es nicht und konnte auch nicht darüber nachdenken, weil ihr Verstand angesichts dieses gigantischen Abgrundes einfach aussetzte. Ihre Hand krampfte sich um das Amulett – aber nur, weil sich ihr ganzer Körper verkrampfte; sonst hätte sie es fallen gelassen und wäre gleich hinterhergestürzt. Sie hörte ein Wimmern, begriff aber nicht, woher es kam.
    Was war mit der Welt passiert?
    Mit einem Schnauben, das besorgt klang, wich das Einhorn zurück und zog Sonja mit sich. Sie stolperte rückwärts, bis sie die schreckliche Tiefe nicht mehr sehen konnte. Dann gaben ihre Beine nach und sie sackte zusammen. Das Einhorn senkte den Kopf, damit sie ihre Hand aus der Mähne wickeln konnte, aber über diese Freundlichkeit konnte sie sich gerade nicht freuen. Warum hatte sie nur nicht auf Philipp gehört und das graue Pferd seinem Schicksal überlassen? Dann wäre sie jetzt sicher zu Hause und würde mit Melanie in ihrem Zimmer sitzen. Denn eins war ihr ganz klar: Das hier war nicht der Ort, an dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.
    Nachtfrost schnupperte an ihren Haaren und sie stieß den großen schwarzen Kopf heftig von sich. »Wohin hast du mich gebracht?«, schrie sie ihn an. »Ich will nach –« Sie brach ab. Während sie ihn anschrie, hatte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung gesehen und sich umgedreht. Und nun wusste sie auch, was das vorhin für ein großer dunkler Schatten im Nebel gewesen war.
    Es waren Tiere, mindestens hundert Stück, und sie waren riesig. Sie sahen ein wenig wie Bisons aus, waren aber viel größer – wie eine Kreuzung aus Bison und Mammut vielleicht. Dichtes schwarzbraunes Fell hing bis auf den Boden herab, und jedes Tier hatte zwei Hörner, die wie Antilopenhörner aussahen: gerade und spitz zulaufend. Nur war jedes Horn mindestens zwei Meter lang. Friedlich grasend zogen die Tiere über eine endlose Ebene.
    Sie hatten sechs Beine.
    Jetzt wurde Sonja klar, dass das Wimmern vorhin von ihr selbst gekommen war, denn ihr Mund stieß dasselbe Geräusch noch einmal aus. Dann rollte sie sich zusammen, versteckte den Kopf zwischen den Armen, machte die Augen zu und wartete darauf, dass der Albtraum aufhörte.
    Etwas stupste sie an und schnaubte.
    »Lass mich in Ruhe«, schrie sie ins Gras. »Geh weg!«
    Wieder ein Stupser. Mittlerweile war es ihr egal, ob sie von einem vertrauten Wesen belästigt wurde oder von einem schwarzen Fabelwesen, das es nicht geben konnte; sie wollte nur, dass es damit aufhörte. Sie hob den Kopf und blickte geradewegs in die Augen des Einhorns – oder doch wenigstens in das eine ihr zugewandte mitternachtschwarze Auge.
    Schon einmal hatte sie bemerkt, dass es nicht so einfach war, dem Blick dieser Augen standzuhalten. Sie wusste nicht genau, warum, aber plötzlich fühlte sie sich beschämt, dass sie hier wie ein kleines Kind herumlag und heulte, bloß weil die Tiere in dieser Gegend ein wenig anders aussahen als zu Hause und die Welt einfach an einem mit Nebel gefüllten Abgrund endete. Hatte sie nicht ihr Leben lang von Märchen und Abenteuern geträumt? Auf Mickys Rücken war sie Räuberin und Prinzessin, Ritterin und Indianerin gewesen, der langweilige Forstwald war zu einem verwunschenen Märchenreich geworden – worüber also beschwerte sie sich, wenn plötzlich ein echtes Einhorn auftauchte und sie in ein fremdes Land brachte? In allen Geschichten kehrten Kinder nach erfolgreichen Abenteuern in fremden Welten wohlbehalten nach Hause zurück, wo ihre Abwesenheit noch nicht einmal bemerkt worden war. Und mit Nachtfrost an ihrer Seite brauchte sie sich bestimmt nicht zu fürchten. Obwohl er sie – strenggenommen – entführt hatte, hatte er sie doch vordem widerlichen Max und seiner Bande gerettet, und sie hatte das sichere Gefühl, dass er sie auch weiterhin beschützen würde. Da konnte sie doch ebensogut das Beste aus ihrem plötzlichen Abenteuer machen. Und sie konnte sich ansehen, was sie da eigentlich eben gefunden hatte. Sie zog die Nase hoch und setzte sich auf.
    Es war ein aus schwarzem Stein geschnittener Wolfskopf mit goldenen Augen, der sie gerade anzusehen schien und auf einer dünnen, runden Platte befestigt war, die ebenfalls aus Gold zu sein schien. Sie schaute sich die Rückseite an und dort war ein Zeichen eingraviert – das genauso gut chinesisch sein oder vom Mars stammen konnte.

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