Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schwur

Der Schwur

Titel: Der Schwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Vollenbruch
Vom Netzwerk:
seltsame elektrische Schock durch ihre Finger und über das schwarze Fell, aber diesmal ließ sie sich nicht beirren. Der hässliche graue Gaul mochte eine Tarnung oder Verzauberung gewesen sein, aber die Verletzungen und die Erschöpfung waren ganz und gar echt, und das Tier würde sterben, wenn sie sich nicht darum kümmerte.
    Hastig schaute sie sich um. Aber rings um sie war nur Nebel, kein Mensch zu sehen. Also zog sie ihre Regenjacke, den Pullover und das Unterhemd aus, zog Pullover und Jacke schleunigst wieder an und wickelte das Hemd um das blutende Bein. Es färbte sich sofort rot. Das Einhorn stand zitternd still und ließ alles mit sich machen.
    Fieberhaft dachte Sonja nach. Was war schlimmer: Bewegung für das Bein oder Stillstand für den Körper? Sie hatte von Fällen gehört, in denen überanstrengte Pferde nach großen Rennen zusammengebrochen und gestorben waren. Nun war ein Einhorn kein Pferd, aber es sah doch irgendwie ganz ähnlich aus und war vielleicht auch ähnlich aufgebaut. Sie fasste wieder in die Mähne und wickelte sich ein paar der silbrigen Strähnen um die Hand. »Komm! Du musst dich bewegen!« Sie zog daran, und zu ihrer Überraschung riss sich das Einhorn nicht los, sondern setzte sich müde und stark hinkend in Bewegung.
    Wohin sie ging, wusste Sonja nicht, es war ihr auch egal. Sie hoffte nur, dass sie nicht plötzlich einem gereizten Stier gegenüberstand. Aber dann wäre doch sicher ein Zaun um die Weide gewesen? War das Einhorn in seinem rasenden Galopp über einen Zaun gesprungen, ohne dass Sonja es gemerkt hatte? Sie erinnerte sich an das Geräusch mächtiger kauender Zähne und blickte sich nervös um, aber der Nebel war zu dicht.
    Dann dachte sie: »Moment mal. Ich wandere hier mit einem Einhorn herum und mache mir Sorgen über irgendwelche blöden Kühe? Bin ich verrückt?«
    Sie warf einen Blick auf ihren Gefährten. Er hatte die Augen halb geschlossen, die Ohren hingen auf halbmast, und er sah aus wie Micky, wenn er besonders lahm und unwillig gewesen war – nur Größe und Farbe stimmten nicht. Noch nie hatte sie ein so glänzend schwarzes Fell mit Sternen gesehen und die Mähne war wie ein Wasserfall aus Silber. Wieso war es schwarz? Sie hatte immer gedacht, Einhörner – falls es sie gab – seien weiß.
    Falls es sie gab? Natürlich gab es keine Einhörner! Ebensowenig wie Drachen, fliegende Pferde, Werwölfe und Vampire. Das waren nur Wesen, die Menschen sich ausgedacht hatten, um ihren Ängsten oder Träumen eine Form zu geben. Zumindest hatte Philipp es ihr so erklärt, nachdem Corinna ihr mit einer schaurigen Geschichte über Werwölfe solche Angst eingejagt hatte, dass sie ihre Besuche im Waldhof beinahe aufgegeben hätte. Sie streichelte den Hals des Einhorns und fragte sich, wie Philipp das wohl erklären würde.
    »Du musst einen Namen haben«, sagte sie, während sie weitertrotteten. »Bingo oder Blanko war’s bestimmt nicht. Fury? Quatsch. Schwarzwind? Sternwind? Nee, das klingt doof. Nachtwind?« Ein Ohr des Einhorns zuckte. »Nachtwind? Gefällt dir das?« Aber es fühlte sich nicht richtig an. »Nachtsilber? Nacht... irgendwas mit Nacht, ja?«
    Das Tier schnaubte.
    Nachtfrost .
    Das Wort war plötzlich in ihrem Kopf – wie vorhin der Befehl, aufzusteigen. Sonja blieb stocksteif stehen. »Nachtfrost?«, fragte sie langsam und ungläubig.
    Das Einhorn schnaubte wieder und warf den Kopf hoch.
    »Das ist dein Name? Und den hast du mir gesagt?«
    Der Blick, der sie traf, war eindeutig belustigt. Sie schüttelte den Kopf. Aber worüber wunderte sie sich eigentlich? Es war ein Einhorn, ein Tier voller Magie – wieso sollte es nicht in ihrem Kopf sprechen können?
    Wenn doch nur Melanie da wäre, um dieses Geheimnis mit ihr zu teilen!
    Sie führte das Einhorn weiter. Noch immer sah sie nur Nebel und hohes Gras. Sollte hier nicht ein Acker sein? Und dahinter Birgens Hof?
    Doch plötzlich entdeckte sie dicht vor ihr eine Art Böschung oder Abhang, die das Grasland unterbrach. An einer steinernen Kante hing etwas an einer silbernen Kette. Es sah aus wie ein Amulett aus schwarzem Stein, in Gold eingefasst. Sonja beugte sich vor und griff danach und da riss der Nebel auf. In Sekundenschnelle zerstoben die weißen Schwaden zu nichts, auseinandergeblasen von einem starken Wind unter einem tiefblauen Himmel.
    Es war keine Böschung und auch kein Abhang. Es war ein Abgrund.
    Soweit sie nach links und rechts sehen konnte, war der Boden einfach weggebrochen. Einen

Weitere Kostenlose Bücher