Der Schwur
war Melanie schon lange vertraut, obwohl es noch nie vorgekommen war, dass sie sie einfach im Flur stehen gelassen hatten. Sonst war immer Sonja da gewesen. Vorsichtshalber klopfte Melanie an Sonjas Zimmertür, aber niemand antwortete. Leise öffnete sie die Tür und steckte den Kopf hindurch. »Sonja?«
Das Bett war zerwühlt, der Schreibtisch ein buntes Durcheinander von Zeichenblättern und Stiften. Pferdeposter an allen Wänden und auf den Schranktüren. Melanies Zimmer sah fast genauso aus, nur achtete ihre Mutter darauf, dass das Bett immer gemacht wurde.
Sie war enttäuscht und erleichtert zugleich, dass Sonja nicht da war – enttäuscht, weil sie unbedingt mit ihr sprechen wollte, und erleichtert, weil die Freundin sich wenigstens nicht verleugnen ließ. Leise trat sie ins Zimmer und ging zum Tisch. Dort hatte Sonja Dutzende von Pferden gezeichnet: Pferde im Sprung, im Galopp, sich aufbäumend, grasend. Sie sahen tatsächlich wie Pferde aus. Sonja konnte gut zeichnen – im Gegensatz zu Melanie, deren Pferde eher wie Kartoffeln auf Stelzen aussahen. Ein Bild fing ihren Blick ein und sie nahm es in die Hand. Es zeigte ein schwarzes Pferd mit heller Mähne und hellem Schweif, das zwischen ein paar Tannen hindurchtrabte.
»Was machst du denn hier?«
Sie zuckte zusammen, ließ das Blatt fallen und drehte sich um. Philipp stand in der Tür, den Mopedhelm in der Hand, und schaute sie unfreundlich an.
»Ich – ich wollte Sonja besuchen«, sagte Melanie und ärgerte sich darüber, dass sie stotterte, bloß weil Philipp sie erschreckt hatte. »Ist doch nicht verboten, oder?«
»Die ist nicht da. Du wirst wohl bis morgen in der Schule warten müssen.« Er hielt die Tür so einladend auf, dass es einem direkten Rausschmiss gleichkam.
»Nein, warte doch mal! Wo ist sie denn hin?«
»Wenn sie es dir nicht gesagt hat, warum soll ich es dir dann sagen?«
Das war wieder eins seiner blöden Spielchen, aber diesmal ließ sie sich nicht überrumpeln. »Weil ich mich entschuldigen will, darum!«
Philipp zog die Augenbrauen hoch. »Ach nee. Ich dachte, wir wären hier das kriminelle Pack.«
»Das hab ich doch nie gesagt!« Entsetzt merkte Melanie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Vor Philipp zu heulen – das fehlte gerade noch. »Ach, lass mich doch in Ruhe!« Sie stürzte auf die Tür zu. Aber Philipp erwischte sie an der Schulter und hielt sie fest.
»Jetzt warte mal, Melanie.« Er klang genauso kühl wie immer, aber als sie wütend und halb blind zu ihm hochblinzelte, sah er unerwartet freundlich aus. »Irgendwas ist bei euch beiden total schiefgegangen, stimmt’s? Erzähl mal.«
»Das interessiert dich doch gar nicht!«
»Dann würde ich nicht fragen«, sagte Philipp. »Du wärst nicht hier, wenn dir nicht was an meiner Schwester läge, also kann ich mir deine Version der Geschichte ruhig mal anhören. Setz dich auf das Bett und erzähl, was los ist.« Er schloss die Tür, legte den Helm auf Sonjas Zeichnungen und setzte sich auf den Schreibtischstuhl.
Schon merkwürdig, dass ausgerechnet Philipp der Einzige sein sollte, der ihr überhaupt zuhörte! Aber weil sie sicheinfach nicht mehr zu helfen wusste, erzählte sie ihm alles, was passiert war – den Vorfall im Schwimmbad, die Entdeckung des verletzten Jungen, den Verlust ihres Handys, die Nachricht von der Schließung des Waldhofes, die zerstörten Blumen, die Wut ihrer Mutter und die unerwartete Bestechung. Philipp hörte sich das alles an und schüttelte schließlich den Kopf. »Himmel, was für ein Drama.«
»Du brauchst mir ja nicht zu glauben«, sagte Melanie patzig.
»Jetzt reg dich mal wieder ab, ja? Mich beschäftigt etwas ganz anderes. Was weißt du über dieses graue Pferd im Wald?«
»Was für ein graues Pferd?«, fragte sie verblüfft.
»Irgend so ein Pferd eben, das da beim Waldhof herumläuft. Warte mal eben.« Er stand auf und ging hinaus, kam aber gleich wieder zurück. »Ihre Reitstiefel sind weg. Das sieht ihr wieder ähnlich – fährt los, ohne einen Ton zu sagen! Ich wette mit dir, dass sie gerade versucht, dieses Pferd einzufangen. Obwohl ich ihr gesagt habe – na, egal.« Er setzte den Helm auf und klappte ihn zu. Melanie schaute ihn an.
»Was hast du vor?«
»Was schon? Ich hole sie nach Hause. Sie hat allein im Wald nichts zu suchen.« Er warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen regnete es immer noch und Nebel lag über dem Gras. Es würde bald dunkel werden.
»Ich komme mit!«
»Vergiss es.«
Für eine Weile
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