Der Schwur
stimmte ja auch; sie wusste es wirklich nicht.
»Ja, dann muss ich die Nomaden wohl doch angreifen. Nimm es nicht zu schwer; sie haben zwar bestimmt nicht erwartet, dass du sie so im Stich lässt, aber sie werden schon verstehen, dass du nicht anders handeln konntest.«Das war blanker Hohn und Sonja biss die Zähne in hilfloser Wut zusammen. »Wie dem auch sei – steig ab und mach es dir bequem. Ich habe einige Gemächer für dich herrichten lassen.«
»Ich will aber nicht hierbleiben!«
»Ich weiß«, sagte der Spürer und wandte sich ab.
»Warten Sie!«, rief Sonja.
Als er sich wieder zu ihr umdrehte und sie so kalt musterte wie einen toten Fisch, wurde ihr fast schlecht vor Angst. »Was – was wollen Sie denn von mir? Ich dachte, Sie wollen das Amulett!«
»Das ist richtig. Und du bist die Einzige, die es tragen kann. Ich wäre doch dumm, eine Waffe an mich zu nehmen, die ich nicht benutzen kann.«
»Eine – eine Waffe?«
Ganz kurz verzerrte sich das leblose Gesicht zu einer scheußlichen Fratze, dann war es wieder so starr wie zuvor. »Eine Waffe«, sagte der Spürer. »Du solltest das am besten wissen.«
»Aber –« Dann erinnerte sie sich. Als der Spürer sie damals im Wald gepackt hatte und wegbringen wollte, hatte sie ihm das Amulett auf die Brust gedrückt. Und mit einem furchtbaren Schrei hatte er sie losgelassen und war geflohen.
An seinen Augen sah sie, dass er sich daran ebenfalls sehr gut erinnerte. Abrupt drehte er sich um und ging auf den Turm zu.
Jetzt, sagte Nachtfrost. Egal, was passiert – halte dich fest!
Hastig wickelte Sonja eine Strähne der silbernen Mähne um ihre Hände – und keine Sekunde zu früh. Aus dem Stand galoppierte Nachtfrost los. Sonja sah, wie der Spürer herumfuhr und seinen hässlichen, lippenlosen Mund aufriss – dann waren sie an ihm vorbei und Nachtfrost sprang in drei großen Sätzen die Treppe zur Burgmauer hinauf.
Erschrocken wichen die Wachen zurück, einer jedoch holte aus und schleuderte seinen Speer. Er zischte durch Nachtfrosts Mähne und streifte Sonjas Schulter. Nachtfrost hielt nicht an und wurde auch nicht langsamer.
Festhalten!
Die Mauer war nicht breit genug, dass er wenden konnte, also bäumte er sich auf, drehte sich nach links – und sprang über die Mauer. Sonja hörte sich schreien, während sie stürzten. Gleich darauf landeten sie krachend auf den Steinen außerhalb der Burg. Nachtfrost stürzte schwer und Sonja wurde von seinem Rücken geschleudert. Aber um ihre Hand war noch immer eine silberne Strähne gewickelt, und mit einem schmerzhaften Ruck wurde sie wieder auf den schwarzen Rücken gerissen, während Nachtfrost sich auf die Beine kämpfte und halb hinkend, halb galoppierend auf den Pfad nach unten zustrebte.
Aus der Burg kam ein schauerliches Gebrüll, das eher von einem Tier als von einem Menschen zu stammen schien.
»Haltet sie auf!«
Mit lautem Knirschen begann sich das Fallgitter zu heben. Sonja warf einen verzweifelten Blick über die Schulter und sah, dass die Wachen auf sie zurannten und die Speere zum Wurf hoben.
»Nachtfrost, schnell!«
Er hinkte den schmalen Pfad hinunter, so schnell er konnte. Es war mehr ein Hoppeln als ein wirklicher Gang, und das linke Vorderbein belastete er fast gar nicht. Zwei Speere flogen an ihnen vorbei, und Sonja duckte sich, wobei sie das Gefühl hatte, dass sich nicht nur ihr Magen, sondern auch alle ihre Muskeln verknoteten.
M ach deine Hand los.
Jetzt erst merkte sie, dass ihre rechte Hand blutete; die Strähne hatte tief in ihre Haut geschnitten. Mit zusammengebissenen Zähnen wickelte sie die silbernen, blutverschmierten Haare los. Ein Speer zischte von oben an ihnen vorbei und verschwand in der Tiefe, und dann hörte sie das, was sie am meisten fürchtete: Hufschlag und zornige, grobe Stimmen hinter ihnen. Und aus der Burg kam ein Ton wie von einer Trompete und hallte im ganzen Tal wider.
»Nachtfrost!«
Hab keine Angst.
Er hinkte schneller den Pfad hinunter. Sonja hielt sich mit der linken Hand an seiner Mähne fest und schaute immer wieder angstvoll zurück.
Sie können hier nicht galoppieren, sonst stürzen sie ab. Ich brauche nur einen kleinen Vorsprung, damit ich mich heilen kann.
Aber diesen Vorsprung bekamen sie nicht. Schon tauchten vor ihnen die schwarzen Zelte und die Häuser auf, und nur ein einziger Blick zeigte Sonja, dass das Trompetensignal gehört und verstanden worden war. Die bewaffneten Männer erwarteten sie schon am Ende des Weges, und die
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