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Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)

Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)

Titel: Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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verschwinden Sie da hinaus.«
    »Ich kenne den Weg. Den Weg herein, den Weg hinaus. Mir ist aber danach, hierzubleiben. Bis Sie sich an mich erinnern, was Sie sollten, was Sie besser sollten.«
    »Warum sollte ich mich an Sie erinnern? Ich habe Sie noch nie gesehen.«
    »O doch, o doch, Miss Doktor, Miss Doktor, Sie haben mich gesehen, Sie haben mich ein Dutzend Mal gesehen, vielleicht öfter, in Ihrem Zimmer, in Ihrem Büro, wo Sie eine Brille trugen. Keine Brille heute. Keine Brille.« Er lachte.
    Sie blickte in die winzigen Pupillen seiner eiweißfarbenen Augen. »Sie waren ein Patient? Sie waren bei mir in der Klinik?«
    »Hey, ja, na, sehen Sie? Hey. Gut. Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Okay.«
    »Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«
    Sein Gesicht verspannte sich, und er schlug sich plötzlich mit der Faust aufs Knie. »Das sollten Sie aber.«
    »Das muss Jahre her sein.«
    »Viele, viele Jahre. Viele Jahre. Ich war sechs oder sieben … oder vielleicht acht Jahre alt. Sehen Sie, jetzt erinnere ich mich nicht. Sich zu erinnern ist schwer, nicht wahr, Miss Doktor? Ich war nur ein kleiner Junge. Aber ich erinnere mich an alles andere. Ich erinnere mich, dass Sie geredet und geredet und geredet haben, und ich erinnere mich, dass Sie geschrieben und geschrieben und geschrieben haben und dass Sie gefragt und gefragt und gefragt haben. Ich erinnere mich. Ich wusste die Antworten nicht immer, ich habe nur die Fragen und das Reden gehört und das Schreiben gesehen. Dann wurde ich weggeschickt. Fällt es Ihnen jetzt vielleicht wieder ein?«
    »Weggeschickt?«
    »Niemand vergisst es, wenn er weggeschickt wird.«
    »Aber ich habe Sie nicht weggeschickt.«
    »Doch, haben Sie. Sie haben Fragen gestellt und Zeug aufgeschrieben und Zeug aufgeschrieben, und ich musste immer wieder in Ihr Zimmer, und dann bin ich auf einmal weggeschickt worden. Das vergesse ich nicht.«
    »Wie heißen Sie?«
    »Sie wollen so tun, als könnten Sie sich nicht daran erinnern?«
    »Nein, ich erinnere mich nicht. Wie heißen Sie?«
    »Mikey.«
    »Ich habe Sie nicht weggeschickt. Das konnte ich gar nicht. Ich war nicht berechtigt, Kinder wegzuschicken.«
    »Vielleicht haben Sie’s jemand anderem gesagt. Vielleicht das. Ich weiß nur, was passiert ist. Daran erinnere ich mich genau … deswegen.«
    »Weswegen?«
    Er stand auf und beugte sich so bedrohlich über sie, dass sie zurückwich. Er roch nach etwas Süßem, aber es war nichts Süßes, das sie erkannte.
    »Wegen dem, wo ich hinkam, Miss, an das erinnere ich mich. Ich erinnere mich an alles. Sie erinnern sich an nichts. Das ist sehr schade. Ich weiß, woran ich mich erinnere und wer das veranlasst hat, und das waren Sie, Miss, Sie, Doktor, Doktor, und ich hab drauf gewartet, dass ich herkommen und Ihnen helfen kann, sich zu erinnern, und hier bin ich.«
    Er sprach immer schneller, die Worte gingen ineinander über. Ein- oder zweimal landete seine Spucke auf ihrer Hand und dann auf ihrer Wange.
    Und plötzlich sah sie ihn, einen spindeldürren Jungen mit riesigen Händen und Schorf auf dem Kopf, blauen Flecken am Hals und an den Armen. Er saß auf einem geradlehnigen Stuhl in ihrem Sprechzimmer und blickte zu Boden, berührte hin und wieder sein Ohr oder sein Bein mit einer Geste, die mehr als zufällig war, eher, als ob jemand einen Talisman berührte. Er verharrte in einem erstarrten Schweigen, war unterernährt, voll von wirrer, verletzter, aufgestauter Wut, zu verängstigt, um auch nur ein Flüstern darüber herauszulassen. Er kam über einen langen Zeitraum zu ihr, und nur einmal, ein einziges Mal, hörte sie ihn sprechen, aber sie verstand nicht, was er sagte. Ein Wort, das sie nicht verstand.
    »Ich erinnere mich«, sagte Magda. »Mikey.« Sein Lächeln war triumphierend, breit, zahnlückig, ein lächelnder Mund, der sich zu einem Brüllen öffnete, das sie für ein begeistertes Lachen hielt, eine Sekunde lang, bevor sie es als Wut erkannte.
    In der Sekunde hob sie die Arme, um ihr Gesicht zu schützen, ehe er sich wütend auf sie stürzte, immer noch brüllend, während das Licht hinter ihren Augen zu einem winzigen Punkt wurde und dann verlosch.

Achtundvierzig
    E r hatte gedacht, er würde bis zur Dunkelheit warten, litt aber unter der Frustration des Wartens, der Hitze, nichts tun zu können, und dem Druck all dessen in seinem Kopf. Er hielt den Kopf unter den Kaltwasserhahn in der Küche und verließ die Wohnung kurz vor sieben. Die Bürgersteige strahlten die Hitze des

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