Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
Schreie waren wie Messer, die durch sein Gehirn fuhren und hinabfielen, und er stürzte vor, wollte sie unbedingt erreichen und aufhalten, wollte ihr zeigen, wer er war und dass sie nicht zu schreien brauchte, aber als er ihren Körper spürte und in ihr Gesicht und den offenen, schreienden Mund blickte, war Lizzie verschwunden. Es war nicht Lizzie, und sein Gehirn fing Feuer.
Neunundvierzig
D ie kleinen Hände waren etwas feucht. Wie eine klamme Seeanemone auf ihrem Arm.
»Verdammt noch mal, Kyra!«
Natalie wurde vollkommen wach und beugte sich über Kyra, um die Lampe anzuknipsen.
»Was hast du gemacht?« Sie klang genervt. Sie war genervt. Es war die vierte Nacht innerhalb von zwei Wochen. »Hast du wieder ins Bett gepinkelt, oder was?«
Die kleinen Hände wurden weggezogen.
»Du hast es tatsächlich getan. Guter Gott, Kyra, wie alt bist du? Ins Bett pinkeln ist das, was Babys machen, kleine Kinder, du bist sechs Jahre alt, fast sieben. Also gut, morgen früh fahren wir als Erstes zum Arzt, und du gehst nicht zu Barbara, bis das geregelt ist.«
Kyra rollte sich auf der entferntesten Seite vom Bett ihrer Mutter zusammen. Es machte ihr nichts aus, nicht zu Barbara zu gehen. In den Ferien war sie von acht bis sechs dort. Nur die Sache mit dem Arzt machte ihr was aus.
»Sei still, ich bin diejenige, die weinen sollte. Komm schon, steh auf, du brauchst ein sauberes Nachthemd, ich will nicht, dass du dieses Bett hier auch noch nass machst. Deins zieh ich morgen ab. Und wenn du hier bleibst, dann bist du still, verstanden?«
Es dauerte nur fünf Minuten, doch dann konnte sie natürlich nicht mehr einschlafen. Kyra schlief. Am Morgen würde sie sich kaum mehr daran erinnern.
Natalie lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie wusste, warum sie nicht schlafen konnte, und es lag nicht nur daran, dass Kyra sie immer wieder weckte, wenn nicht wegen der Bettnässerei, dann wegen schlechter Träume. Irgendetwas stimmte nicht, und Natalie wusste es, nur war Kyra wie eine verdammte Auster, fest verschlossen. Sie hatte in der Schule nichts gesagt, sie sagte nichts zu Barbara, und Natalie hatte es aufgegeben. Sie hatte sie in ihr Zimmer eingesperrt, hatte es mit Reden versucht, mit Fragen, Flehen, Brüllen, mit Süßigkeiten, mit Spielzeugentzug, Fernsehverbot, Spazierengehen, Hausarrest. Nichts. Kyra sagte nur: »Ich möchte Ed sehen.« Und manchmal: »Wo ist Ed?«
Aber Kyra wollte nicht über Ed reden, wiederholte nur das alte Zeug. Ich mag Ed. Ich bin gern in Eds Haus. Wir haben Brötchen gebacken. Wir haben Karamell gemacht. Wir haben Geschichten gelesen. Wir haben im Garten gearbeitet.
»Hat Ed dir je was getan?« Schweigen.
»Hat Ed dir je von anderen Kindern erzählt, die sie kannte?« Schweigen.
»Hat Ed dir erzählt, wo sie arbeitet? Wollte Ed dich je in ihrem Auto mitnehmen? Hat Ed dich je ausgeschimpft?« Schweigen. Schweigen. Schweigen.
Natalie war besorgter, als sie es vor sich selbst zugeben mochte. Sie überlegte, was sie jetzt tun konnte. Sollte sie den Arzt fragen, ob sie mit Kyra noch zu jemand anderem gehen sollte? Oder vielleicht sollte sie mit ihr wegfahren, Urlaub machen, in Butlins oder Center Parcs oder Camping in Frankreich, wie ihre Kollegin Davina. Haha. Sie hatte kein Geld für Camping oder für Center Parcs und vermutlich nicht mal für Butlins. Alles ging für die Miete und das tägliche Leben drauf, selbst das bisschen Urlaubsgeld, das sie kriegte. Das, und das verdammte Auto musste repariert werden. Und dann war da die Firma, die sie zu gründen hoffte. Der Cateringservice, den sie im Kopf schon so lange plante, wie sie denken konnte. Träum weiter, Natalie.
Sie würde nicht weinen oder sich bei jemandem beklagen, weil das nicht ihre Art war. Sie war zäh. Sie war unabhängig, und sie erzog Kyra dazu, genauso zu sein. Nur manchmal, wie jetzt zum Beispiel, mitten in der Nacht, bekam die Zähigkeit Risse.
Kyra nuschelte und murmelte, als hätte sie den Mund voll kleiner Steine. Natalie hatte sich angestrengt, Worte zu verstehen, irgendetwas, das einen Sinn ergab, aber es gelang ihr nie. Nur dieses komische Nuscheln.
Sie drehte sich auf die Seite und versuchte einzuschlafen, doch durch ihren Kopf schossen helle Lichter und knallige Bilder, und erst nach dem Morgengrauen döste sie ein. Kyra hatte sich nicht bewegt, lag zusammengerollt direkt am Bettrand.
Das Wartezimmer war übervoll, und einer der Ärzte war zu einem Notfall gerufen worden. Kyra saß mit
Weitere Kostenlose Bücher