Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
baumelnden Beinen auf der Bank. Jedes Mal, wenn sie die Beine nach hinten schwang, knallten sie gegen die Wand, und die Frau ihr gegenüber funkelte sie böse an. Wenn die Frau das nicht getan hätte, dann hätte Natalie Kyra ermahnt, damit aufzuhören, aber wegen der Frau ließ sie es bleiben. Sie mussten fast eine Stunde über den vereinbaren Termin hinaus warten und waren dann nur drei Minuten im Sprechzimmer. Der Arzt blickte die ganze Zeit auf seinen Computer und nicht auf sie beide und fragte zweimal, wie alt Kyra war.
»Na gut«, sagte Natalie, »Sie halten das also für normal, dass sie plötzlich ihr Bett nass macht. Wenn Sie meinen.« Es hatte ja doch keinen Zweck. Er hatte nicht mal gefragt, ob Kyra in letzter Zeit etwas Verstörendes erlebt hatte; anscheinend hatte er keine Ahnung von irgendwas.
»Hör auf, so zu schlurfen, Kyra, ich muss wieder zur Arbeit.«
»Kann ich ein Eis haben?«
»Nein, verdammt.«
»Warum nicht?«
»Kein Geld, keine Zeit, und es ist schlecht für die Zähne.«
»Nicht mal ein kleines?«
»O Gott, na gut. Aber nur …« Natalie hielt inne. Sie packte Kyras Hand ganz fest. »Nur, wenn du es mir sagst.«
Kyra starrte auf den Boden.
»Kyra?«
»Was?«
»Was ist bei Ed passiert?«
Schweigen.
»Okay, dann nicht. Wenn du nicht redest, gibt’s kein Eis. Komm schon. Und hör gefälligst auf, so zu schlurfen.«
»Wann kommt Ed in ihr Haus zurück?«
»Nie«, erwiderte Natalie mit plötzlicher Gehässigkeit.
Sie wartete darauf, dass Kyra zu weinen anfing, aber es kam nichts. Gar nichts. Nur Schweigen.
Sie hatte sich den Vormittag freigenommen, also würde sie ihn auch ausnützen. Kyra wurde zu Barbara gebracht. Natalie ging in den Top Shop und kaufte sich ein Paar Schuhe. Ihr blieb noch Zeit zum Herumschlendern und für einen Milchshake.
Und dann kam es ihr, wie eine Blase, die in ihrem Kopf platzte und eine Idee freisetzte. Sie blieb lange sitzen, dachte darüber nach, trank noch eine Cola nach dem Milchshake, was keine so gute Entscheidung war, weil beides zusammen den restlichen Tag über in ihrem Magen zu schäumen schien. Aber die Idee war gut. Am Ende des Nachmittags hatte sie alles sorgfältig durchdacht, wie viel sie möglicherweise bekommen könnte, wie sie es verwenden würde.
Sie ging nicht zur Arbeit zurück. Sie musste zu viel überlegen. Es war sehr heiß, und sie setzte sich mit ihren Überlegungen und drei verschiedenen Zeitungen in den Garten. Eds Haus war seltsam, wie ein Geisterhaus, eine leere Hülle, die nebenan stand, nicht nur ein Haus, dessen Bewohner bei der Arbeit waren oder sogar im Urlaub. Anders.
Es ging ihr nicht nur ums Geld. Es ging darum, es jemandem zu erzählen. Sie nahm sich die Zeitungen vor. Oben über den Artikeln standen die Namen der Leute, die sie geschrieben hatten, und Natalie notierte sich einige, aber nur von Frauen. Sie hätte es nicht erklären können, doch sie wusste, dass es eine Frau sein musste.
Melanie Epstein. Anna Patterson. Selina Wynn Jones. Der Name gefiel ihr. Neben dem Artikel über sexsüchtige Frauen war ein briefmarkengroßes Foto. Selina Wynn Jones hatte glatte blonde Haare, die ihr bis unter die Ohren reichten, und eine recht große Nase, was irgendwie beruhigend war. Jemanden namens Selina Wynn Jones hätte sie gern zur Freundin. Freundin. Natalie blieb an dem Wort hängen, weil sie Ed wohl als Freundin bezeichnet hätte, wegen Kyra. Ed hatte Geduld mit Kyra gehabt, mehr als sie selbst für gewöhnlich. Die beiden hatten zusammen gekocht, hatten Tomaten in Töpfen gezogen und Sonnenblumensamen im Garten gesät. Ed hatte ihr Bücher vorgelesen, und wenn jemand gefragt hätte, dann hätte Natalie sie als Freundin vorgestellt. Sie hatte nicht viele. Sie war ein wenig wie Ed, zurückhaltend, nicht dauernd bei anderen Leuten zu Besuch, mischte sich nicht in das Leben anderer ein, was bedeutet hatte, dass sie als Nachbarinnen gut zusammenpassten. Sie erinnerte sich, die beiden über den Zaun hinweg gehört zu haben, Kyra plappernd mit ihrer kratzigen kleinen Stimme, Ed, die hin und wieder ein Wort einwarf, aber meist still war, Kyra reden ließ. Einmal war Ed auf eine Tasse Tee vorbeigekommen. Einmal hatte Natalie ihr falsch zugestellte Post gebracht. Sie hatten sich gegrüßt. Galt das als Freundschaft?
Herr im Himmel. Sie sprang auf, als hätte sie eine Wespe gestochen, als ihr einfiel, was passiert war, was Ed getan hatte. Wenn sie es gewesen war. Vielleicht war es ein Irrtum. Die Polizei beging
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