Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
Tages aus, und an den Straßenrändern schmolz der Asphalt. Er machte kehrt, um am Kanal entlangzugehen. Das war ein Umweg, aber schattig, angenehmer. Niemand war zu sehen, bis auf einen alten Mann auf einer zerbrochenen Bank, der vor sich hinflüsterte.
Sie waren hier manchmal spazieren gegangen, im Winter, im Frühling. Lizzie wollte so gerne einen Eisvogel sehen, und jemand hatte ihr erzählt, dass Eisvögel gelegentlich wie ein blauer Blitz von Kanalufer zu Kanalufer schossen und unter den Weiden nisteten, aber sie war gestorben, und der Eisvogel blieb ungesehen. Jetzt starrte er hinüber zu den Weiden, immer noch in der Frühabendhitze. Nichts.
Er kam am Schleusenwärterhaus und den Lagerhäusern vorbei. Hier war Lizzie zu ihm gekommen, aber als er die Hand nach ihr ausstreckte, war sie weggerannt, gestolpert, gefallen, hatte geschrien und die Polizei gerufen. Es war eine Verwechslung und ein Missverständnis gewesen, doch er hatte es nicht angemessen erklären können, dazu waren sie anscheinend zu beschränkt. Aber er war schon immer der Meinung gewesen, dass Polizisten beschränkt waren, übertrainiert und ungebildet, ohne Subtilität oder ausreichende Intelligenz.
Die Kathedralenuhr schlug die volle Stunde.
An Lizzies Tod trug jemand die Schuld. Derjenige, der ihr das verdorbene Fleisch zu essen gegeben hatte. Ärzte, die ihre Krankheit zu spät erkannt hatten, Ärzte, die sie nicht richtig behandelt hatten. Ärzte, die zugeschaut hatten, während die Symptome in Lizzies Gehirn gekrochen und es aufgefressen hatten. Schwestern im Hospiz. Menschen, deren Gebete nutzlos waren. Gott. Gott. Gott und die Priester Gottes.
Er überquerte den Kanal auf der schmalen Eisenbrücke zur Stadt. Hier lagen die Rückseiten der Reihenhäuser zum Wasser hin; die Bewohner konnten aus ihren Schlafzimmern auf die grünschwarze Wasseroberfläche schauen, auf den Pappkarton, der gegen den Brückenpfeiler prallte, auf den im Gestrüpp halbverborgenen Einkaufswagen, auf die pissenden Hunde und die schmalen Boote und die Weiden und die heimlichtuerischen Eisvögel.
Er bahnte sich den Weg durch Nesseln und Dornen, durch ein kaputtes Tor und einen schmalen Garten ohne Gras hinauf. Niemand sah ihn. Niemand kam. Irgendwo bellte ein Hund.
Er schwitzte. Er roch nach Schweiß.
Das Haus war heruntergekommen, eine Wabe aus Mietzimmern mit dreckigen Vorhängen. Das Haus links daneben war genauso, aber rechts hatte jemand einen Garten angelegt. Er ging hinüber und schaute durch die zerbrochenen Zaunlatten. Ringelblumen. Ein Rosenbogen aus Holz, an dem sich pfirsichfarbene Blüten hochrankten. Ein Pfad mit Fliesen wie Hüpfsteine. Ein Gemüsebeet – Zwiebelspitzen, Kartoffeln, Bohnenstangen. Zwei Futterhäuschen hingen an einem Goldregenstrauch. Es gab einen winzigen Teich. Weiter hinten konnte er einen Vogelkäfig an der Ziegelmauer erkennen und ein Aufblitzen von Kanariengelb. Er versuchte sich durch den Zaun zu quetschen, aber der gab nicht nach. Er wollte in dem Garten sein, neben dem winzigen Teich, bei den Vögeln, zwischen dem Kartoffelgrün und den Ringelblumen.
Abrupt begann Max zu weinen, lehnte seinen Kopf an den kaputten Zaun, und aus seinem Weinen wurde ein Sturzbach von Wut, der ihn dazu brachte, gewaltsam an den Zaunlatten zu rütteln, bis jemand aus dem Haus brüllte. Niemand kam. Nur das Brüllen, dann wieder Stille.
An seiner Hand war Blut von einem Stück abgebrochenem Holz, das sich in den Daumenballen gebohrt hatte.
Und dann sah er sie. Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf einer Bank nahe dem Rosenbogen. Ihr Haar war heller, als wäre sie lange in der Sonne gewesen. Er zerrte an den Zaunlatten, und diesmal brach eine der halbverfaulten ab, und als er dagegentrat, wurde die Lücke groß genug, dass er sich hindurchzwängen konnte. Er blieb stehen, erstaunt darüber, im Garten zu sein, einen Atemhauch von Lizzie entfernt. Sie war da. Sie hatte sich weder bewegt noch umgedreht. Sie wartete vielleicht, obwohl er sich wunderte, wieso es hier sein sollte, wo er sie doch nur durch Zufall gefunden hatte.
Er wischte sich mit dem feuchten Handrücken über das Gesicht. Der Schnitt schmerzte nicht mehr, blutete aber immer noch. Sie würde wissen, was zu tun war.
»Lizzie«, sagte er.
Es war sehr still. Er wartete.
»Lizzie.« Sie bewegte sich nicht, daher trat er einen oder zwei Schritte vor, streckte die Hand nach ihr aus, um ihr etwas blonderes Haar zu berühren.
»Lizzie.«
Da drehte sie sich um und schrie, und die
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