Der Seele weißes Blut
Flüsterton gebeten, gut auf Lydia aufzupassen. Sie sei zerbrechlicher, als sie aussehe. Als Chris gefragt hatte, wie er das meine, hatte er abgeblockt und ihm lediglich eine seltsame Andeutung zugeraunt: »Wenn du sie eines Tages singen hörst, weißt du, was ich meine.« Köster war davonmarschiert, und Chris hatte ihm verwirrt hinterhergestarrt. Vielleicht hatte ihn der Alte auch nur auf den Arm genommen.
Im Grunde interessierte es ihn gar nicht. Es ließ ihn genauso unberührt wie alles andere, was um ihn herum vor sich ging. Er war ein Fremdkörper, ein Stück Niemandsland. Es war, als lebte er in einer Seifenblase. Irgendwo da draußen war das wirkliche Leben, zum Greifen nah, und doch unerreichbar. Vermutlich war es ein Fehler gewesen, wieder in den Polizeidienst einzutreten, die Arbeit interessierte ihn nicht wirklich. Er hatte keinen Ehrgeiz mehr, keine Ziele, keine Träume. Die waren an einem strahlenden Sommertag vor drei Jahren gestorben. Und manchmal wünschte er sich, ihm wäre das Gleiche zugestoßen.
Als Lydia in die Dreherstraße bog, brach Chris das Schweigen. »Was wissen wir von ihr?«
»Nicht viel. Sie heißt Kristina Keller, ist fünfundzwanzig, gelernte Tischlerin und arbeitet in einem Baumarkt in der Holzabteilung. Ihr Chef hat sie als vermisst gemeldet, weil sie heute den dritten Tag nicht zur Arbeit erschienen ist und er sie telefonisch nicht erreichen kann.«
»Freunde? Familie?«
»Bisher Fehlanzeige.«
»Sie könnte beim Arzt sein. Oder im Krankenhaus.« Chris heftete seinen Blick auf die vorbeifliegenden Häuser.
»Schon möglich.«
Lydia ließ sich jeden Fetzen Information einzeln aus der Nase ziehen. Er hätte Köster gern gefragt, ob sie auch gesprächiger sei, als sie wirke. Und wie man sie dazu brachte, die Zähne auseinanderzukriegen. Sie irritierte ihn, aber er hatte keine Lust, sich mit ihr anzulegen. Früher hätte er sich ein solches Verhalten nicht bieten lassen und darauf bestanden, als gleichberechtigter Partner behandelt zu werden. Aber früher war vieles anders gewesen. Er war ein anderer gewesen. Heute war er nur noch der Schatten jenes Kriminalhauptkommissars Christopher Salomon, der einmal der Star der Kölner Kripo gewesen war. Er taxierte Lydia. Immerhin hatte sie sich gestern bei ihm entschuldigt, was aber offenbar nicht hieß, dass sie jetzt beste Freunde waren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als so lange zu bohren, bis er seine Antworten hatte. Das lenkte ihn immerhin von seinem Selbstmitleid ab. »Wenn wir so wenig wissen, wieso glauben wir dann, dass sie unser Opfer ist?«
Sie hielten an einer Ampel. Lydia sah zu ihm herüber. »Sie wohnt in der Nähe des Tatorts. Angeblich joggt sie regelmäßig in dem Waldstück. Sagt ihr Chef. Alter, Körpergröße und Haarfarbe stimmen.«
Sie blickte zurück auf die Straße. Die Ampel sprang auf Grün. Wenig später hielten sie vor einem dreistöckigen Mietshaus im Dernbuschweg.
Die Besitzerin war eine ältere Dame, die sie vor der Haustür erwartete. »Ich kann das gar nicht glauben! Die arme Frau Keller! Das ist so ein stilles, nettes Mädchen. Ist ihr denn etwas zugestoßen?«
»Guten Tag, Frau Holtmann. Mein Name ist Lydia Louis, das ist mein Kollege, Herr Salomon. Wir wissen noch nicht, was mit Frau Keller geschehen ist. Gegenwärtig wird sie nur vermisst. Haben Sie einen Wohnungsschlüssel?«
Die Frau hielt ein dickes Schlüsselbund hoch. »Natürlich habe ich einen. Nicht dass Sie denken, ich würde meinen Mietern hinterherschnüffeln. Aber heutzutage weiß man ja nie, wozu man mal in die Wohnung muss. Stellen Sie sich vor, es gibt einen Wasserschaden und einer meiner Mieter ist in Urlaub. Sie wissen ja gar nicht, wie schwer man es als Hauseigentümer hat. Ständig ist irgendwas kaputt. Und dauernd beschweren sich alle, dass man zu viel Miete verlangt. Dabei verschlingen die Kosten für den Erhalt eines Hauses Unsummen.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, unterbrach Chris behutsam ihren Redestrom. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lydia eine Grimasse schnitt. Doch er scherte sich nicht darum. »Wohnen Sie auch hier im Haus?«
»Ja. Im Erdgeschoss. Und ich muss mich natürlich auch um den Garten kümmern. Dabei habe ich einen kaputten Rücken, und mein Arzt sagt, ich muss mich schonen. Fragt sich, wie ich das anstellen soll.«
»Wenn Sie uns jetzt vielleicht die Wohnung aufschließen könnten?«, fuhr Lydia ungeduldig dazwischen.
»Selbstverständlich«, erwiderte Frau Holtmann und warf Lydia einen
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