Der Seele weißes Blut
Schönling.« Schweigen. »Er ist aus Köln. Ich kannte ihn vorher nicht. Jedenfalls nervt er.«
»Was mögen Sie nicht an ihm?«
»Er ist zu nett, um echt zu sein. Niemand in dem Job ist so lieb und nett. Außerdem sieht er aus wie aus einer Zigarettenwerbung.«
»Finden Sie ihn attraktiv?«
Schweigen. »Er ist eingebildet und oberflächlich.« Pause. »Nein, ich finde ihn nicht attraktiv. Er ist nicht mein Typ. Themenwechsel, okay?« Kopfsenken. »Am Montag ist es wieder passiert.«
»Wie ist es Ihnen dabei ergangen?«
»Fragen Sie lieber, wie es mir danach ging. Am Dienstagmorgen wurde die Leiche gefunden. Ich konnte kaum geradeaus gucken. Schöne Scheiße.«
»Warum konnten Sie kaum geradeaus gucken? Hatten Sie zu wenig Schlaf?«
»Das auch. Aber vor allem einen Riesenkater. Ich habe das Gefühl, ich brauche jedes Mal mehr Alkohol. Sonst kann ich es nicht ertragen.«
»Müssen Sie es denn ertragen?«
Schweigen. »Ich kann es nicht lassen. Es ist ein Zwang. Je länger ich es hinauszögere, desto heftiger wird das Verlangen. Wie ein Strudel, der einen mitreißt. Manchmal glaube ich, wenn ich es nicht tue, platzt mir der Schädel. Dann gehe ich kaputt. Es ist wie Dampf ablassen, verstehen Sie? Es erleichtert. Allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Danach geht es mir jedes Mal total beschissen. Ich fühle mich wie ein Haufen Dreck. Erniedrigt. Besudelt. Dann möchte ich am liebsten alle Spiegel in meiner Wohnung zuhängen, mich ins Bett legen und nie wieder aufstehen.«
Ellen Dankert stellte die Einkaufstaschen vor dem Kühlschrank ab. Müde ließ sie sich auf einen der Lederstühle fallen und betrachtete ihren verbundenen Zeigefinger. Er pochte unangenehm, doch sie wagte nicht, den Verband zu lösen und nachzusehen. Philipp hatte ihr verboten, sich um die Verletzung zu kümmern. »Wer ist denn hier der Arzt?«, hatte er gebrüllt, als sie versucht hatte, die Wunde selbst zu versorgen. »Nimm bloß deine Pfoten weg! Du machst alles nur noch schlimmer!«
Vorsichtig lehnte Ellen sich im Stuhl zurück. Ihre rechte Seite schmerzte bei jeder Bewegung, der Einkauf war eine Tortur gewesen. Selbst wenn Philipp nichts dagegen hätte, wäre an Joggen derzeit nicht zu denken. Heute Morgen hatte sie sich nach dem Duschen in dem großen Spiegel im Schlafzimmer betrachtet. Der riesige blaue Fleck hatte begonnen, sich grün und gelb zu verfärben.
Ellen zog die kleine Karte aus ihrer Hosentasche, die sie aus dem Müll gerettet hatte. Lydia Louis. Die Frau war grob und gefühllos zu ihr gewesen, aber Ellen hatte dennoch gespürt, dass es etwas gab, was sie beide verband, sie zu Schwestern machte. Sie hatte den tiefen Schmerz hinter der rauen Fassade wahrgenommen, gut versteckt, nicht gut genug jedoch für eine wie sie, eine, die sich auskannte mit den tausend Gesichtern der Gewalt.
Frau Louis’ Kollege schien sehr nett zu sein. Zumindest hatte er einen netten Eindruck gemacht. Doch Ellen wusste, dass nichts trügerischer war als ein Mann, der einen netten Eindruck machte. Nachdenklich fuhr sie mit dem unversehrten Zeigefinger über die Buchstaben. Philipp war vollkommen ausgerastet, als sie ihm von dem Fund im Wald berichtet hatte. Blöd von ihr, die Visitenkarte einfach so auf dem Tisch liegen zu lassen. Natürlich hatte er gefragt, was die Polizei von ihr gewollt hatte. Und natürlich hatte sie ihm von ihren morgendlichen Joggingrunden erzählen müssen. Er hatte ihr vorgehalten, wie verantwortungslos es sei, die Kinder allein im Haus zurückzulassen. Und dann ausgerechnet im Wald herumzulaufen, wo sich jede Menge kranke Typen herumtrieben. Das hätte ebenso gut sie sein können, die ermordete Frau auf der Lichtung, ob sie darüber mal nachgedacht habe.
Natürlich hatte sie darüber nachgedacht. Genau genommen hatte sie seit dem Morgen an nichts anderes gedacht. Und auch jetzt, zwei Tage später, ließ der Gedanke sie immer noch nicht los. Sie wusste nicht viel über das, was im Wald geschehen war. Das Bündel, das sie auf dem Boden gesehen hatte, war offenbar der Kopf einer Frau gewesen, die jemand dort umgebracht hatte. Doch Ellen hatte keine Ahnung, wie sie zu Tode gekommen war oder warum. Vermutlich war es besser so. Sie konnte ohnehin kaum noch schlafen, nicht nur, weil ihre rechte Seite so fürchterlich schmerzte, dass sie Angst vor jeder Bewegung hatte, sondern auch weil sie ständig von der Lichtung träumte. Und von dem Knacken im Unterholz.
Selbstverständlich hatte Philipp recht. Es war
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