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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Klewe
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leichtsinnig von ihr gewesen, im Dunkeln durch den Wald zu joggen. Und zudem auch noch die Kinder unbeaufsichtigt im Haus zurückzulassen. Was da alles hätte passieren können! Eine Mutter ließ ihre Kinder nicht allein. Was war nur in sie gefahren? Sie wusste es selbst nicht. Sie wusste nur, dass das Laufen wie ein Zwang war, dem sie sich nicht widersetzen konnte, dass sie am liebsten sofort, in dieser Sekunde, wieder loslaufen würde, dass der Wald sie zu rufen schien.
    Ellen steckte die Karte zurück in die Tasche und erhob sich langsam. Ein Stechen jagte quer durch ihren Brustkorb, und sie krümmte sich vor Schmerz, atmete schwer. Gestern hatte Maja auf dem Heimweg vom Kindergarten schlapp gemacht und ihr die dünnen Ärmchen entgegengestreckt. Normalerweise trug Ellen sie dann das letzte Stück bis zur Haustür, Maja war noch so zart und klein, sie war keine Last. Doch gestern hatte ihr bereits der Gedanke, das Kind hochzunehmen, höllische Qualen bereitet, und sie hatte Maja vertrösten müssen. Die hatte daraufhin unbedingt das Aua sehen wollen, das Mama am Bauch hatte. Glücklicherweise war ihr der Zwischenfall bereits wieder entfallen, als sie zu Hause ankamen, und Ellen achtete seither genau darauf, sich vor den Kindern nichts von ihren Schmerzen anmerken zu lassen.
    Sie verstaute die Lebensmittel im Kühlschrank, dann stieg sie in den Keller, wo die Waschmaschine stand. Sie füllte die Trommel, gab Waschpulver in das Fach und stellte die Maschine an. Auf dem Weg zur Treppe blieb sie mit dem Ärmel an einem Nagel hängen. Der Stoff ihrer Bluse riss mit einem leisen Ächzen, ein feines Brennen legte sich auf ihre Haut, dort, wo der Nagel sie gestreift hatte. Sie presste die Hand auf die Stelle. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie konnte nicht mehr, fühlte sich, als sei alle Kraft aus ihrem Körper geflossen wie aus einer lecken Wanne. In letzter Zeit ging einfach alles schief. Nicht einmal an einer Wand vorbeigehen konnte sie, ohne dass sie sich verletzte. Sie starrte den Nagel an. Früher hatte hier der Ersatzschlüssel für das Auto gehangen. Ellen wusste nicht mehr, wieso Philipp damals ausgerechnet diesen Platz dafür ausgesucht hatte. Inzwischen hing der Schlüssel mit allen anderen in einem verchromten Schränkchen im Flur. Der Nagel hatte hier nichts mehr zu suchen. Er musste weg, und zwar auf der Stelle.
    Sie lief zurück in die Waschküche. Am anderen Ende befand sich eine Tür, die zu Philipps Werkkammer führte. Ihr Mann hatte beim Bau des Hauses vieles selbst gemacht, da ihm die Handwerker nicht ordentlich genug arbeiteten. »Schlamperei zu überteuerten Preisen«, hatte er geschimpft. »Das lasse ich mir nicht bieten.« Auch jetzt erledigte er hin und wieder kleinere Reparaturen, und letztes Wochenende hatte er einen Sandkasten für die Kinder gebaut.
    Ellen stieß die Tür auf. Sie betrat die Werkkammer so gut wie nie. Sie war Philipps Reich. Neugierig blickte sie sich um. Alles war penibel aufgeräumt, an den Wänden standen Regale mit Dosen und Pappschachteln voller Nägel, Schrauben und Muttern, über der Werkbank hingen Schraubenzieher und Hämmer in unterschiedlichen Größen. Bohrmaschine, Stichsäge und eine Anzahl weiterer Geräte, die Ellen nicht einmal dem Namen nach kannte, waren in die Fächer unterhalb der Arbeitsfläche einsortiert. Irgendwo musste auch eine Zange sein, mit der sie den verfluchten Nagel aus der Wand ziehen konnte. Unentschlossen zog sie eine Schublade auf und stieß auf ein eingerolltes Kabel. Noch eine Schublade. Klebeband, Isolierband und Kordel. Die nächste Schublade hatte ein Schloss, doch der Schlüssel steckte. Sie sperrte auf, zog am Griff und schaute hinein. Als sie erkannte, was darin lag, fingen ihre Knie an, unkontrolliert zu zittern. Nein! Hastig schob sie die Schublade zu, stolperte zur Treppe und hinauf in den Flur, ohne den stechenden Schmerz in ihrer Seite zu beachten. Sie verschloss die Kellertür, lehnte sich an die Wand und ließ sich schluchzend zu Boden sinken.

9

    Das Büro war leer, als Lydia es gegen elf betrat, und sie war dankbar dafür. Die Kollegen wussten, dass sie donnerstags später zur Arbeit kam, weil sie in ärztlicher Behandlung war. Alle Fragen, was ihr denn fehle, hatte sie energisch abgeblockt. Inzwischen war die Neugier versiegt, die blöden Kommentare blieben aus. Sie verbrachte eine halbe Stunde damit, die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch zu sortieren. Alte Berichte, die noch nicht abgeheftet waren, eine

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