Der Seele weißes Blut
beleidigten Blick zu. Auf der Treppe in den ersten Stock weihte sie Chris in die Geheimnisse eines gut gepflegten Gartens ein. Er hörte geduldig zu und fragte dann, ob die Mieter den Garten denn auch nutzten, ob Frau Keller ihr vielleicht manchmal dort begegne.
»Natürlich nicht«, rief die Alte empört. »Ich lasse doch nicht Hinz und Kunz durch meinen Garten trampeln. Wo denken Sie hin?«
Chris schluckte, doch er fragte freundlich weiter. »Wissen Sie denn, was Frau Keller in ihrer Freizeit macht?«
»Manchmal läuft sie im Wald herum. Da sehe ich sie abends nach der Arbeit in Sportsachen aus dem Haus gehen. Sonst weiß ich nichts.«
»Was ist mit Besuch?«, wollte Lydia wissen. Sie waren jetzt vor der Wohnungstür angekommen. Frau Holtmann fingerte an ihrem Schlüsselbund herum.
»Habe nie jemanden gesehen.« Sie schloss auf und wollte vorangehen.
Lydia hielt sie am Arm fest. »Den Rest machen wir, Frau Holtmann. Danke fürs Aufschließen.«
Sie betraten die Wohnung, Lydia schlug der eingeschnappt dreinblickenden Frau Holtmann die Tür vor der Nase zu. »Ich würde wetten, dass die sowieso schon hier drin war und alles durchsucht hat.«
»Da könntest du recht haben.« Chris blickte sich um und erhob die Stimme. »Frau Keller! Sind Sie hier?«
Niemand antwortete. Sie schritten behutsam die ganze Wohnung ab. Alles war sorgfältig aufgeräumt. Auf dem Sofa im Wohnzimmer hockte eine Sammlung Teddybären, im Regal darüber standen aufgereiht DVDs. Chris begutachtete die Titel. E-Mail für Dich . Während Du schliefst . Weil es Dich gibt . Lydia kam aus der Küche. Sie hatte sich Einmalhandschuhe übergestreift.
»Im Kühlschrank sind lauter Fertiggerichte, zwei Becher Magerjoghurt und eine Flasche Orangensaft.«
»Muss ziemlich einsam sein, diese Kristina Keller«, sagte Chris.
Lydia nickte. »Ich gucke mal nach dem Telefon.«
Chris zuckte zusammen, als kurz darauf die Stimme einer jungen Frau durch die stille Wohnung hallte. Lydia hatte den Anrufbeantworter eingeschaltet. Nach Kristina Kellers Ansage piepste es. Dann ertönte die Stimme eines Mannes. »Frau Keller, Manfred Windscheid hier. Sind Sie krank? Ist alles in Ordnung? Melden Sie sich doch bitte!« Kurz darauf dieselbe Stimme. Diesmal besorgter. »Frau Keller. Was ist mit Ihnen los? Brauchen Sie vielleicht Hilfe?« Dann ein Klacken, ein weiterer Anrufer, der jedoch keine Nachricht hinterließ. Chris trat in die Diele, wo das Telefon stand.
»Nur diese beiden Nachrichten?«
»Sieht so aus.« Lydia hielt ein kleines Buch hoch. »Da stehen ein paar Namen und Adressen drin. Die Mutter lebt offenbar in Hamburg. Immerhin haben wir einen Treffer. Die Nummer ihres Zahnarztes. Maren Lahnstein hat gesagt, dass das Gebiss so weit erhalten ist, dass eine Identifizierung anhand der Zahndaten möglich sein müsste. Die Praxis ist gleich um die Ecke, da fahren wir auf dem Rückweg vorbei und lassen uns ihre Patienten-akte geben. Sicherheitshalber nehmen wir aber auch noch die Bürste mit.«
Chris nickte. »Ich sehe mir mal das Schlafzimmer an. Vielleicht fehlt ja doch ein Koffer, und ihr Chef hat einfach nur vergessen, dass sie die nächsten zwei Wochen Urlaub hat.«
»Träum weiter, Cowboy.«
Chris fuhr herum, doch Lydia grinste.
»War ein Scherz. Natürlich könnte sie verreist sein. Vielleicht ist ihre Mutter plötzlich erkrankt.«
Das Schlafzimmer sah aus wie das eines vierzehnjährigen Mädchens. Alle Möbelstücke waren aus massiver Kiefer. Eine rosa Tagesdecke lag auf dem Bett. An der Wand hing ein Spiegel mit einem verzierten Metallrahmen, über den eine Reihe Seidentücher und Schals drapiert waren. Gegenüber entdeckte Chris ein paar Bilder. Offenbar waren es gerahmte, aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Seiten. Oder Kalenderblätter. Alles Fotos von Pferden, die durch weite Landschaften galoppierten.
Auf dem Kleiderschrank staubte ein silbergrauer Hartschalenkoffer vor sich hin, ganz unten im Schrank lag eine grüne Sporttasche. Es sah nicht so aus, als sei Kristina Keller verreist.
Lydia kam ins Schlafzimmer. »Irgendwo ihre Hand-tasche gesehen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Wenn Frau Keller unser Opfer ist, muss der Täter die Tasche zusammen mit der Kleidung weggeworfen haben.«
»Oder er hat sie als Souvenir behalten.« Chris ließ seinen Blick nachdenklich durch das Zimmer schweifen. Er versuchte sich die Frau vorzustellen, die hier lebte. Fast glaubte er, sie vor sich zu sehen: ein einsames junges Mädchen, vermutlich nicht
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