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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Klewe
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besonders hübsch, eher unscheinbar und still. Er sah sie vor dem Spiegel stehen, verschiedene Frisuren ausprobieren und sich dann doch für den schlichten Pferdeschwanz entscheiden, der so schön unauffällig und praktisch war. Die meisten Menschen machten sich keine Gedanken darüber, wie viel ihre Wohnung über sie verriet. Sie betrachteten ihr Zuhause als ihre Zuflucht, nicht als das, was von ihnen übrig blieb, wenn sie unerwartet starben.
    Sie fuhren beim Zahnarzt vorbei und dann zurück nach Bilk auf das Gelände der Universität, um die Patientenakte in der Gerichtsmedizin abzuliefern. Kristinas Bürste, die sie aus der Wohnung mitgenommen hatten, würden sie später zum LKA schicken. Sie war für den Gentest, um ganz sicherzugehen, falls der Zahnbefund positiv war.
    Maren Lahnstein und ihr Team hatten alle Hände voll zu tun, in Kaiserswerth waren zwei Männer in einem PKW verbrannt, und im Hofgarten hatte eine Streife einen toten Stadtstreicher gefunden. Auf einem Tisch am Ende des Sektionssaals lag ein durchsichtiger Plastiksack mit Knochen.
    »Sind das die Gebeine aus dem Aaper Wald?«, wollte Lydia wissen.
    Maren Lahnstein schob sich eine Strähne ihrer rotbraunen Haare hinter das Ohr und nickte. »Ja. Die liegen schon seit zwei Wochen da, wir kommen einfach nicht dazu. Hier ist die Hölle los, zwei von uns sind krank und eine weitere Kollegin ist in Mutterschutz.«
    »Sie haben noch nicht einmal reingeguckt?«
    Die Ärztin seufzte. »Selbstverständlich habe ich das. Ihre Kollegen wollten ein paar erste Eindrücke, eine Schätzung, wie lange die Gebeine dort lagen, um entscheiden zu können, wie dringend der Fall ist.«
    »Und? Können Sie schon irgendwas dazu sagen?«
    Maren Lahnstein sah sie überrascht an. »Ich dachte, das ist Halverstetts Fall.«
    »Ist es auch«, erwiderte Lydia ungeduldig. »Aber er könnte etwas mit unserem zu tun haben.«
    Die Rechtsmedizinerin runzelte die Stirn. »Ach wirklich?«
    »Und? Können Sie etwas sagen?« Lydia klang, als würde sie gleich auf die Frau losgehen.
    Chris unterdrückte den Drang, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. »Ich glaube, Frau Doktor Lahnstein hat zur Zeit ziemlich viel zu tun«, sagte er.
    »Das sehe ich selbst«, fuhr Lydia ihn an. »Aber deshalb wird sie ja wohl trotzdem meine Frage beantworten können.«
    Lahnstein warf Chris einen Blick zu, dann sagte sie zu Lydia: »Wie gesagt, ich habe den Sack bisher nur flüchtig angesehen. Die aktuellen Opfer gehen vor, hat man mir gesagt.« Sie schlug die Patientenakte von Kristina Keller auf. »Aber ich könnte eben schnell die Gebisse vergleichen. Das dauert nicht so lang.«
    »Meinen Sie, Sie können sicher sagen, ob die Tote Kristina Keller ist?«, fragte Chris und schaute skeptisch auf die Röntgenbilder, die die Ärztin in den Filmbetrachter schob. Sowohl der Unter- als auch der Oberkiefer waren mehrfach gebrochen, fast alle Schneidezähne fehlten.
    »Ich kann es zumindest versuchen«, antwortete sie. »Vielleicht haben wir ja Glück.«

10

    Sommer 1984
    Er hat Hunger. Sein Magen knurrt wie ein Bär. Mama kocht Spaghetti, sein Lieblingsessen. Er sitzt auf der Bank und wartet. Es duftet nach Tomatensoße. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Kerstin hört Musik in ihrem Zimmer. Sie hat sich eingeschlossen. Mama weiß das nicht. Kerstin darf sich nicht einschließen. Aber sie tut es trotzdem. Er hat das Geräusch des Schlüssels genau gehört. Manchmal würde er sich am liebsten auch einschließen, aber in seiner Tür steckt kein Schlüssel.
    Ein Motorgeräusch vor dem Haus. Papa ist da. Heute kommt er nach Hause. Oft ist er tagelang nicht da. Es hat etwas mit seiner Arbeit zu tun. Er fährt mit dem Auto Kunden besuchen. Kunden sind Leute, die etwas bei ihm kaufen. Allerdings hat Papa gar nichts im Auto, das die Kunden kaufen können. Aus irgendeinem Grund tun sie es trotzdem. Einmal hat er Kerstin gefragt, wie die Kunden etwas bei ihm kaufen können, wenn er gar nichts dabeihat, und sie hat ihn ausgelacht. »Du Dummkopf«, hat sie gesagt und ihm das Haar zerzaust, sodass sein Kopf hin und her geflogen ist. Er war nicht sicher, ob es lieb gemeint oder ob sie böse auf ihn war.
    Die Haustür knallt, dann plumpst die dicke Akten-tasche auf die Fliesen. Die Küchentür springt auf, Papa kommt herein. Er bleibt in der Nähe des Kühlschranks stehen, reibt sich die Hände und sieht sich um.
    »Das Essen ist sofort fertig«, sagt Mama.
    »Das will ich aber auch hoffen«, antwortet Papa. »Warum

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