Der Seele weißes Blut
halbe Stunde konzentrierte er sich auf die Liste mit den vorbestraften Gewalttätern, denen sie heute einen Besuch abstatten würden. Er versuchte sie nach Prioritäten zu sortieren, tat sich aber schwer damit. Allmählich erwachte die Festung zum Leben, auf dem Flur wurde es laut, Türen knallten, er erkannte Stimmen.
Lydia stürmte ins Zimmer, warf ihren Parka über die Stuhllehne und stöhnte. »Puh, hier riecht es aber muffig, mach mal das Fenster auf!«
»Dir auch einen schönen guten Morgen.« Er stand auf und öffnete das Fenster.
Lydia schaltete ihren Computer ein, ohne zu antworten.
Chris räusperte sich. »Darf ich dich was fragen?«
Sie blickte auf, die Augen misstrauisch zusammengekniffen.
»Hattest du gestern Abend noch Besuch?«
»Besuch? Was geht es dich an, ob ich Besuch habe, Salomon?«
»Ich meine, hier im Büro. War Hackmann bei dir?«
Ihre Augen waren jetzt nur noch zwei Schlitze. »Was genau willst du eigentlich von mir wissen?«
»Genau das, was ich gefragt habe: War Hackmann gestern Abend noch hier im Büro?«
»Gibt es einen Grund für diese Frage?«
Chris seufzte innerlich. Er wünschte sich, er hätte nie mit dem Thema angefangen. Wenn er ihr erzählte, dass er Hackmanns Aftershave gerochen hatte, würde sie vermutlich vollkommen ausrasten. »Vergiss es.« Er wandte sich wieder seiner Liste zu.
Eine Weile schwiegen sie, schließlich sagte Lydia: »Ich habe Hackmann zum letzten Mal bei der Besprechung gesehen. Und hier im Büro war er gestern den ganzen Tag nicht, soviel ich weiß. Ist deine Frage damit beantwortet?«
Er sah zu ihr hinüber, sie hielt die Augen auf den Bildschirm gerichtet, dessen Rand mit unzähligen gelben Haftzetteln gespickt war.
»Danke, das beantwortet meine Frage.«
Sie hakte nicht weiter nach, und er war froh darüber. Kurze Zeit später erhob er sich und verließ das Zimmer. Hackmann war allein in seinem Büro. Chris schob die Papiere auf seinem Schreibtisch zur Seite und setzte sich.
»Hey, was soll der Scheiß?« Hackmann starrte ihn aufgebracht an.
»Das wollte ich dich fragen«, erwiderte Chris so ruhig wie möglich. Er hatte keine Ahnung, was Hackmann in ihrem Büro gewollt hatte, ja, er wusste nicht einmal sicher, ob sein Geruchssinn ihm nicht einen Streich gespielt hatte, also musste er auf den Busch klopfen. »Warum spionierst du Lydia hinterher?«
Hackmanns Augenwinkel zuckten, sein Blick schoss nervös zu Boden, bevor er Chris wieder herausfordernd ansah. Volltreffer.
»Was zum Teufel meinst du, Chris? Wie kommst du auf diesen Unsinn?«
»Es ist vollkommen egal, wie ich darauf komme. Wichtig ist, dass du weißt, dass ich es weiß. Und dass du weißt, dass ich ein Auge auf dich habe.«
Hackmann sprang auf. »Na wunderbar. Willst du mir drohen? Ausgerechnet du? Du kennst doch wohl den Spruch mit dem Glashaus, oder?«
Chris wurde abwechselnd heiß und kalt. Was wusste Hackmann? Hatte er gar nicht Lydia, sondern ihn bespitzelt? Doch wozu? »Es ist mir scheißegal, was du über mich weißt oder über mich denkst, Hackmann«, sagte er leise. »Ich warne dich lediglich davor, deine Nase in das Privatleben deiner Kollegen zu stecken. Ist das klar?« Er stand auf und ging auf die Tür zu.
»Du stehst auf die Kleine, hab ich recht?«
Chris zog es vor, nicht zu antworten. Er griff nach der Klinke.
»Ich muss dich leider enttäuschen, Salomon«, fuhr Hackmann ungerührt fort. »Du bist nicht ihr Typ. Zu schade auch.«
Chris stürzte aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Hackmann hatte zwar die Klappe weit aufgerissen, aber er war sich sicher, dass seine Warnung angekommen war.
Klaus Halverstett stieß die Tür zu seinem Büro auf und stellte erstaunt fest, dass seine Kollegin Rita Schmitt bereits an ihrem Schreibtisch saß, vor sich eine Glaskanne mit einer dampfenden grünen Flüssigkeit, daneben eine brennende Kerze.
»Was ist denn das? Haben wir schon bald Weihnachten?«, fragte er irritiert.
»Bis Weihnachten sind es noch drei Monate. Das hier ist grüner Tee, die Kerze soll die Stimmung aufhellen.«
»Meine oder deine?«
Rita sah zu ihm hoch. »Alles in Ordnung?«
Die korrekte Antwort wäre »Nein« gewesen. Er hatte sich gestern Abend mit seiner Frau gestritten und sie war so aufgebracht gewesen, dass sie eine Reisetasche gepackt und die Nacht in einem Hotel verbracht hatte. Dass Veronika ihm Vorhaltungen machte, weil er seiner Arbeit mehr Zeit widmete als ihr, war er gewohnt. Aber diesmal war es anders gewesen. Er
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