Der Seele weißes Blut
»Was ist passiert?« Beinahe hätte sie gefragt: »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Sie ist ermordet worden. Der Kerl hat schon eine Frau umgebracht. Ellen ist sein zweites Opfer.«
»Oh, mein Gott.« Hannelore schlug die Hand vor den Mund. »Das ist ja furchtbar. Wie konnte das passieren?«
Philipp zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht war starr, seine Augen ausdruckslos. »Sie ist allein im Wald herumgelaufen. Das hat wohl seine Aufmerksamkeit erregt.«
»Die armen Kinder! Wissen sie es schon?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es ihnen erklären soll.«
»Wie wurde sie getötet?« Hannelore hätte ihren Sohn am liebsten in den Arm genommen und getröstet, aber er war so seltsam teilnahmslos. Und sie konnte die Er-innerung an das, was sie gestern in seiner Tasche gefunden hatte, nicht ausblenden. Obwohl es in diesem Augenblick so unwichtig erschien.
»Die Polizei hat gesagt, sie wurde gesteinigt.«
»Das ist ja grauenvoll! Wer tut denn so etwas?«
Philipp senkte den Kopf. Für einen Moment flackerte so etwas wie Trauer in seinen Augen auf. »Ich weiß es nicht. Es ist unbegreiflich. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Ich wollte sie sehen, aber die Polizisten, die bei mir waren, haben mir davon abgeraten. Sie sei ohnehin nicht wiederzuerkennen, haben sie gesagt.«
Hannelore wollte nach seinem Arm greifen, doch er rückte von ihr ab, sein Gesicht wurde wieder starr.
»Du hast etwas, das mir gehört, Mutter.«
»Ich – ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Verdammt, lass das Theater! Du warst an meiner Tasche. Das habe ich dir schon gestern angemerkt. War doch klar, dass du der Versuchung nicht widerstehen konntest, in meinen Sachen zu schnüffeln. Du musstest ja schon immer deine Nase in meine Angelegenheiten stecken. Und in Vaters. Also, her damit!«
»Aber, Philipp! Wie redest du mit mir? Bist du denn völlig von Sinnen? Ich weiß, du bist durcheinander, weil deine Frau tot ist, aber das gibt dir nicht das Recht, so mit deiner Mutter zu sprechen.«
Er sprang auf und packte sie am Arm. »Her damit!«
»Nein.« Ihre Stimme zitterte, aber sie war fest entschlossen. Sie war nicht mehr die alte Hannelore Dankert, die sich von den Männern in ihrer Familie herumkommandieren ließ.
Philipp hob die Hand. Hannelore zuckte zurück. Ihr Sohn hatte sie noch nie geschlagen. Es war nicht nötig gewesen, bisher hatte sie auch so alles getan, was er von ihr verlangte.
»Das ist meine letzte Aufforderung. Ich möchte nicht, dass das, was du gefunden hast, in die falschen Hände gerät. Es ist alles ganz harmlos, aber ich habe keine Lust, das irgendwem erklären zu müssen.«
»Du könntest es mir erklären, Philipp.« Sie versuchte, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen.
»Du hast mich doch noch nie verstanden. Und jetzt rück sie raus!«
Hannelore verließ der Mut. Wenn sie sich ihrem Sohn weiterhin widersetzte, würde er das ganze Haus auf den Kopf stellen und finden, was er suchte. Und sie konnte sich ihm nicht ernsthaft in den Weg stellen. Dazu hatte sie nicht die Kraft. Und was nutzte es letztendlich? Sie würde doch niemandem erzählen, was sie herausgefunden hatte. Sie würde ihn decken, wie sie es immer schon getan hatte. Resigniert senkte sie den Kopf. »Also gut.«
Er ließ sie los. »Warum nicht gleich so?«
Sie schlurfte voran ins Wohnzimmer. Als sie die Tür öffnete, klingelte es.
»Wer ist das?«, fragte Philipp scharf.
»Das wird der Herr Schneider sein«, antwortete sie, plötzlich voll neuer Hoffnung. »Der junge Herr, der Vaters Benz kaufen möchte.«
Philipp schnaubte verächtlich. »Du tust es also tatsächlich.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir können das Geld gut gebrauchen.«
Es klingelte wieder. Sie eilte an ihm vorbei zur Tür und öffnete. »Hallo, Herr Schneider, kommen Sie doch herein. Mein Sohn wollte gerade gehen, nicht wahr, Philipp?«
Philipp packte sie am Arm und drückte zu. »Ich komme wieder«, flüsterte er, bevor er das Haus verließ.
Salomon spähte durch die Windschutzscheibe. »Müsste gleich da vorn sein.«
»Ich weiß.« Lydia hielt ungeduldig nach einem Parkplatz Ausschau. Sie befanden sich in Oberkassel. Reines Wohngebiet, angenehme Nachbarschaft. Wenn man es sich leisten konnte. Hier wohnte Daniel Stegemeier. Der Mann war bereits mehrfach wegen sexueller Belästigung angezeigt worden. Allerdings hatte man ihm dieses Vergehen nur in einem Fall nachweisen können, und der lag acht Jahre zurück. Dennoch hatten sie
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