Der Seele weißes Blut
hatte sich anders dabei gefühlt. Wie ein Verräter. Und zwar gleich zwei Frauen gegenüber. Er wusste nicht, ob er mit Maren eine Zukunft hatte, aber er war sich sicher, dass seine Ehe mit Veronika Vergangenheit war. Trotzdem hatte er bisher nicht den Mut gehabt, einen Schlussstrich zu ziehen. Das kam ihm zu endgültig vor. Wie ein Sprung von einer Klippe. Da konnte man auch nicht mehr auf halbem Weg umkehren. Sein ganzes Leben würde aus-einanderbrechen, wenn er sich von Veronika trennte. Andererseits gab es nicht mehr viel in seinem Leben, das er mit ihr teilte. Die meiste Zeit verbrachte er sowieso hier im Präsidium, in der Festung, seiner Festung. Warum also wagte er den Absprung nicht? Was hatte er zu verlieren?
Er spürte Ritas neugierigen Blick. Rasch riss er sich zusammen. »Grüner Tee? Den muss ich aber nicht mittrinken, oder?«
»Ein bisschen innere Reinigung könnte dir auch nicht schaden«, scherzte sie. »Aber ich fürchte, du bist eher nicht der spirituelle Typ.«
Halverstett ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Mir war bisher nicht bewusst, dass du der spirituelle Typ bist.«
»Mir auch nicht.« Sie lächelte.
»Und?«
»Ich habe da jemanden kennen gelernt, einen Menschen, der mir einen vollkommen neuen Blickwinkel auf mein Leben eröffnet hat«, erklärte sie.
Dann wären wir zwei, dachte Halverstett. Er räusperte sich. »Irgendwas in Sachen DNA?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann versuchen wir es mit dem Ring. Vielleicht erkennt ihn jemand.«
»Und wenn er gar nichts mit unseren Gebeinen zu tun hat?«
Halverstett zuckte mit den Schultern. »Dann machen wir jemandem eine Freude, indem wir ihm ein lang vermisstes Schmuckstück wiederbeschaffen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte sie und lachte. »Also setzen wir ein Foto in die Zeitung?«
»Ja. Kümmere dich bitte darum. Ein Foto plus Beschreibung und Fundort.«
»Ist so gut wie erledigt.« Sie nahm die Kanne und goss sich Tee ein. »Sicher, dass du keine Tasse möchtest? Grüner Tee reinigt die Gedanken.«
»Wie kommst du darauf, dass meine Gedanken gereinigt werden müssen?«
Sie lachte erneut. »Müssen sie das nicht?«
Er sah sie scharf an, doch sie schien keinerlei Hintergedanken zu haben. »Nein, danke«, sagte er. »Ich bleibe bei Kaffee. Dieses Gebräu sieht nicht nur aus wie irgendein tödliches Gift, es schmeckt obendrein wie Katzenpisse.«
30
Hannelore Dankert hatte gewusst, dass er noch einmal wiederkommen würde. Gestern hatte sie nicht die Zeit gehabt, sich zu überlegen, wie sie sich verhalten sollte. Der Schock hatte sie gelähmt. Sie hatte nicht mehr gewusst, wie lange sie so dagesessen hatte, fassungslos über das, was sie in der Tasche ihres Sohnes gefunden hatte, als es plötzlich an der Haustür geklingelt hatte. Philipp! Was sollte sie tun? Ihn zur Rede stellen? Ihn fragen, was das zu bedeuten habe? Aber was nutzte das schon? Sie kannte ja die Antwort. Jetzt, wo sie der Wahrheit ins Gesicht blicken musste, wo es kein Zurück mehr gab, fielen ihr all die kleinen Anzeichen wieder ein, die sie bemerkt und geflissentlich ignoriert hatte. Sie hatte nicht hinsehen wollen. Welche Mutter will das schon? Ihr eigener Sohn! Was war nur mit ihm geschehen? Was war schiefgelaufen? Trug sie die Schuld?
Sie hatte hastig alles zurück in die Tasche gestopft – fast alles. Einen Teil ihres Fundes hatte sie, ohne darüber nachzudenken, in der Tasche ihrer Schürze verschwinden lassen. Dann hatte sie die Tür geöffnet. Sie hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er hatte glauben sollen, dass alles wie immer war. So lange zumindest, bis sie eine Entscheidung getroffen hatte. Er hatte sie prüfend angesehen, und sie hatte tapfer gelächelt.
»Schau mal, was ich im Kofferraum gefunden habe. Die Kinder sagen, das ist deine Sporttasche.«
»Hast du sie geöffnet?«
»Natürlich nicht.«
Sie hatte nicht gefragt, warum er die Tasche im Wagen seines Vaters deponiert hatte, und er hatte keine Erklärung abgegeben, sondern hatte die Kinder genommen und war davongefahren. Doch sie hatte gewusst, dass es damit nicht vorbei war.
Jetzt war er also wieder da. Sie öffnete die Tür. Von oben hörte sie Karls Stimme.
»Ich komme später, ich habe Besuch«, rief sie die Treppe hinauf. Fast beneidete sie ihn darum, dass er von alldem nicht mehr viel mitbekam.
Sie setzten sich in die Küche.
»Ellen ist tot«, sagte Philipp.
»Was?«, flüsterte sie entsetzt. Sie hatte nicht geglaubt, dass es noch schlimmer werden konnte.
Weitere Kostenlose Bücher