Der Seele weißes Blut
innerlich. Die Frau war im denkbar schlechtesten Moment aufgetaucht. Er war sich sicher, dass Lydias Beschreibung bei dem Wirt eine Erinnerung ausgelöst hatte. Jetzt konnte er wieder von vorn anfangen. Vielleicht sollte er ihm damit drohen, ihn aufs Präsidium zu bestellen, wenn er nicht kooperierte. Allerdings war das keine gute Idee. Das Risiko war zu groß, als dass er es darauf ankommen ließ.
40
Sonntag, 20. September
Dr. Christian Feller war ein hagerer, grauhaariger Mann in Anzughose und dunkelblauem Rollkragenpullover. Sein Gesicht war sonnengebräunt.
»Ich bedauere sehr, Sie am Sonntagvormittag stören zu müssen, Herr Feller«, sagte Klaus Halverstett. »Vor allem, wo Sie gerade erst aus dem Urlaub zurückgekehrt sind.«
»Wenn mir Ihr Besuch nicht recht wäre, hätte ich Ihnen das gesagt«, antwortete Feller knapp und ging voran in eine Küche mit gediegener Eichenholzausstattung. »Meine Frau ist bei ihrer Mutter im Heim, aber einen Kaffee bekomme ich gerade noch hin. Darf ich Ihnen eine Tasse anbieten?«
»Danke, gern.« Halverstett setzte sich an den Tisch und sah zu, wie der Radiologe mit bedächtigen Handgriffen Kaffee aufbrühte. Man merkte, dass er es nicht häufig tat. Halverstett ertappte sich bei der Vorstellung, dass der Mann in Gedanken eine Arbeitsanleitung durchging, um nur ja nichts zu vergessen. Er schätzte den Arzt auf Anfang sechzig, vermutlich hatte er nur noch zwei oder drei, höchstens fünf Jahre bis zur Rente. Obwohl er damit kaum zehn Jahre älter war als Halverstett, schien er einer anderen Generation anzugehören. Halverstetts Vater hatte bis zu seinem Lebensende nicht einmal ein Ei gekocht. Als seine Frau starb, war er hilflos im Chaos versunken, doch er hatte sich bis zu seinem Tod standhaft geweigert, irgendwelche Hausarbeiten zu erlernen. Lieber hatte er die Abhängigkeit von anderen ertragen, als auf seine alten Tage seine lebenslangen Überzeugungen über Bord zu werfen.
Schließlich saßen Halverstett und Feller einander gegenüber, jeder eine dampfende Tasse vor sich. Feller hatte sogar irgendwo im Schrank noch ein paar Kekse aufgetrieben und sie auf einer Untertasse drapiert.
Halverstett nahm einen Schluck. »Ich hatte Ihnen ja bereits am Telefon gesagt, dass es um Ihren alten Schulfreund Rainer Kästner geht.«
»Und genau damit haben Sie mich geködert.« Er blickte Halverstett erwartungsvoll an, der sofort einhakte.
»Was ist Ihre Theorie darüber, was damals geschehen ist?«
Feller zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, Sie hätten frische Hinweise? Warum interessiert Sie der Fall nach all den Jahren?«
»Wir haben möglicherweise neue Informationen. Seine Mutter hat angedeutet, dass er vielleicht eine Geliebte hatte. Eine verheiratete Frau. Können Sie uns dazu etwas sagen?«
Feller blickte aus dem Fenster auf den gepflegten Vorgarten. Ein Eichhörnchen huschte über den Rasen und verschwand unter einem Busch. »Dieses lästige Pack«, sagte er. Dann sah er entschuldigend zu Halverstett. »Diese Viecher sind niedlich, aber auch eine Plage«, erklärte er. »Sie vergraben überall ihre Vorräte. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft meine Frau Nüsse aus den Blumenkübeln graben muss.«
Halverstett wartete.
»Also, es ist gut möglich, dass es da jemanden in Rainers Leben gab. Ich weiß aber nichts Genaues. Wir hatten uns damals, sagen wir, ein wenig auseinanderentwickelt.«
»Auseinanderentwickelt? Davon hat mir seine Mutter gar nichts gesagt.«
»Ich glaube nicht, dass er es ihr gegenüber erwähnt hat. Sie hatte einen Narren an mir gefressen. Ich vermute, sie hat sich gewünscht, ihr Sohn wäre wie ich.«
»In welcher Beziehung?«
»Ehrgeizig, strebsam, zuverlässig. Rainer war ein Hasardeur, ein Spieler. Er hatte keine großen Ziele.«
»War das der Grund, warum Sie nicht mehr so viel Kontakt zu ihm hatten?«
Der Arzt nahm sich Zeit, von seinem Kaffee zu trinken und die Tasse behutsam wieder auf der Untertasse zu platzieren. »Wohl auch«, antwortete er. »Wenn man jung ist, kann man leichter mit diesen Unterschieden umgehen. Aber wir waren keine Jungen mehr, es war Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Ich war damals gerade im Begriff, mir meine eigene Praxis einzurichten. Das bedeutete eine Menge Verantwortung. Verantwortung, die Rainer nicht übernehmen wollte.«
»Was hat Rainer beruflich gemacht?«
»Erst hat er ewig lange studiert und dann die unterschiedlichsten Jobs angenommen. Was er zuletzt gemacht hat, weiß ich
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