Der Seele weißes Blut
hatten sie sicherlich hinreichend beschrieben. Er wusste also Bescheid. Er hatte sie in der Hand und konnte jederzeit die Bombe platzen lassen. Er konnte sie erpressen. Ohnmächtige Wut überfiel sie. Sie hatte keine Lust, die nächsten Jahre mit jemandem zusammenzuarbeiten, der ihr dunkelstes Geheimnis kannte und ihr damit das Leben zur Hölle machen konnte. Sie hatte die Chance gehabt, ihn loszuwerden. Warum hatte sie sie nicht genutzt?
»Gute Arbeit, Salomon«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Meier, du sorgst bitte dafür, dass Herr Brandau noch heute entlassen wird.« Sie blickte auf ihre Unterlagen, versuchte das Gefühlschaos zu verdrängen und sich auf die Fakten zu konzentrieren. »Dann also wieder alles auf null. Legen wir los. Ich fasse noch einmal zusammen, was wir bisher über den Tathergang im letzten Fall wissen: Im Gegensatz zu den beiden anderen Opfern wurde Valentina Frederiksen am helllichten Tag ermordet, in einem Teil des Südparks, der zwar für Bauarbeiten abgesperrt, aber nicht vollkommen unzugänglich war. Bei Ellen Dankert ist der Täter bereits ein höheres Risiko eingegangen als bei dem ersten Opfer Kristina Keller, indem er sie an einer ungeschützten Stelle im Park ermordet hat. Diesmal ist er noch einen Schritt weitergegangen.«
»Eskalation?«, fragte Köster dazwischen.
»Darauf wollte ich hinaus«, erwiderte Lydia. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Die Beschäftigung mit dem Fall ließ sie ihre eigenen Probleme vergessen. »Er wird jedes Mal ein bisschen wagemutiger. Sowohl, was den Tatort, als auch, was den Zeitpunkt angeht. Um vier Uhr morgens in einem Stadtwald ist man mit großer Sicherheit ungestört, um sechs oder sieben abends in einem öffentlichen Park sieht das ganz anders aus.«
»Dann macht er bestimmt bald einen Fehler«, meinte Schmiedel.
»Ich würde ihn gern kriegen, bevor er dazu die Gelegenheit hat«, sagte Lydia. »Es gibt noch ein paar Auffälligkeiten, die wir nicht vergessen dürfen. Die drei Frauen sind nicht der gleiche Typ. Kristina Keller war schlank und hatte lange dunkle Haare, Ellen Dankert war ebenfalls schlank, aber sie hatte dunkelblonde Haare, und Valentina Frederiksen war eher kräftig und hatte kurzes, rot gefärbtes Haar.«
»Und sie war eine Lesbe«, ergänzte Hackmann.
»Ja und?«, fuhr Ruth ihn an. »Stört dich das?«
»Nicht bei der, nicht mein Typ.«
»Schnauze, Hackmann!« Schmiedel warf ihm einen genervten Blick zu. »Wir sollten das trotzdem im Hinterkopf behalten«, fuhr er an die Übrigen gerichtet fort. »Wenn unser Mann tatsächlich so etwas wie religiöse Strafen vollzieht, dann könnte das in ihrem Fall das Motiv sein. ›Ordnet euch den Männern unter‹, womöglich ist das wörtlich gemeint.«
»Und bei den anderen beiden? Damit sind wir doch schon mal in einer Sackgasse gelandet.« Meier blickte in die Runde. »Bei Kristina Keller haben wir absolut nichts gefunden.«
»Das heißt aber nicht, dass es nichts zu finden gibt«, meinte Schmiedel. »Schließlich hatten wir da die Bibelzitate noch nicht.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich ausreichend in so ein krankes Hirn versetzen kann, um irgendeinen Zusammenhang zwischen den Zitaten und dem Mordmotiv zu erkennen.« Meier verschränkte die Arme. »Für mich sind diese Bibelstellen einfach nur total bescheuert.«
»Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit«, sagte Lydia schnell. Sie wollte nicht, dass die Situation erneut eskalierte. »Bei mir hat sich eine Zeugin gemeldet, eine Frau Förster. Sie ist Therapeutin. Sie hat mir etwas Interessantes erzählt.« Lydia berichtete von dem Gespräch und von Försters Verdacht. »Ich möchte, dass zwei von euch sich dahinterklemmen, die entsprechenden Websites zusammenstellen und nach auffälligen Postings überprüfen. Wirtz und Wiechert, macht ihr das? Ich werde noch einmal mit Antje Maltkowski, der Lebensgefährtin von Valentina Frederiksen, sprechen. Vielleicht weiß sie, ob ihre Freundin sich im Internet mit Leidensgenossinnen ausgetauscht hat.«
Köster notierte etwas. »Was ist mit der toxikologischen Untersuchung von Valentina Frederiksens Leiche? Schon ein Ergebnis?«
Lydia schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Das wird wohl vor morgen nichts mehr. Immerhin wissen wir bereits, dass sie ebenfalls blau verfärbte Magenwände hatte. Wir dürfen also davon ausgehen, dass auch sie mit Flunitrazepam ruhiggestellt wurde. Frau Lahnstein hat im Rachen der Toten übrigens eine fast vollständig erhaltene Kapsel
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