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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Klewe
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Zentrum der Ermittlungen stand für Lydia immer noch die gute alte Polizeiarbeit, das Sammeln und Auswerten von Indizien und Spuren. Harte Fakten, die kein Richter bis zur Unkenntlichkeit verdrehen konnte. Sie wusste, wie wichtig das war. Sie hatte es am eigenen Leib erfahren.

38

    Sommer 1984
    Ganz winzig ist der Vogel, hat noch keine richtigen Federn, unter dem braun-weiß gemusterten Flaum sieht man seine nackte rosa Haut. Bestimmt ist er aus dem Nest gefallen. Er liegt im Gras und piepst hilflos.
    Er ist allein im Garten. Eigentlich wollte er unter dem Birnbaum ein riesiges Loch buddeln, um seinen Schatz zu vergraben. Ein Geheimversteck, das niemand außer ihm kennt. Er hat seine Schippe fest in die trockene, harte Erde gestemmt. Schweiß ist ihm über das Gesicht gelaufen vor Anstrengung, trotzdem ist das Loch erst klitzeklein und flach wie eine Pfütze. Da passt sein Schatz niemals hinein.
    Sein Schatz, das sind eine glitzernde Murmel, die er Kai aus der Kindergartentasche stibitzt hat, ein kleiner blauer Matchbox-Rennwagen und ein Taschenmesser, das ganz hinten in der Küchenschublade lag. Mama hat das Messer bestimmt längst vergessen. Es ist alt und schon ein bisschen rostig, aber die Klinge ist höllenscharf. Das blaue Rennauto hat Tobias letzte Woche mit auf den Spielplatz gebracht und dort vergessen. Er hat es gefunden. Jetzt gehört es ihm.
    Das Vogelbaby versucht zu laufen, aber ein Beinchen knickt immer weg. Bestimmt ist es gebrochen. Saskia hat sich einmal das Bein gebrochen, und sie haben es im Krankenhaus von oben bis unten weiß eingewickelt. Gips heißt das, hat Saskia gesagt. Der Gips war hart. Ob man ein Vogelbeinchen auch in Gips wickeln kann? Er schleicht vorsichtig näher. Das Tier ist mit einem Mal still. Hat es Angst vor ihm? Oder ist es tot? Er weiß nicht, was er machen soll. Geschwind hebt er einen kleinen Stein auf und lässt ihn auf das halbnackte Bündel fallen. Der Vogel zuckt, doch er gibt keinen Laut von sich. Er hebt noch einen Stein auf, diesmal einen etwas größeren, und schleudert ihn mit voller Wucht auf den Vogel. Das Tier piepst laut, an seinem rosa Bauch erscheint ein winziger Blutfleck.
    Ihm läuft ein Schauder über den Rücken. Er sieht zu, wie das Blut im Gefieder versickert. Wieder versucht das Vogelbaby, sich auf seine dürren Beinchen zu stellen. Sicherlich möchte es vor ihm davonlaufen, aber es kann ihm nicht mehr entkommen.
    In aller Ruhe sammelt er zwei Hände voll Steine und sucht sich einen guten Platz. Ein paar Schritte von dem Tier entfernt ist ein Baumstumpf. Hier hat Papa den alten Kirschbaum abgesägt, weil er morsch war. Er steigt auf den Stumpf, was mit den Steinen in den Händen gar nicht so einfach ist. Das Vögelchen ist von hier aus nur ein kleiner grauer Fleck in der Wiese. Die ersten drei Steine landen daneben. Er überlegt schon, ob er wieder heruntersteigen und näher rangehen soll, aber dann trifft er. Keinen Laut gibt das graue Bündel von sich, es zuckt nur unter dem Aufprall. Er wirft den nächsten Stein. Den nächsten. Immer öfter trifft er.
    Die Hände sind leer. Er läuft zu dem kleinen Vogel, der jetzt ganz blutig ist. Merkwürdig sieht er aus. Und ekelig. Mit einem Mal denkt er an Mama. Die wird bestimmt böse, wenn sie den blutigen Vogel findet. Einmal hat sie eine tote Maus im Garten entdeckt und furchtbar geschrien. Dabei war die Maus nicht einmal blutig. Dafür sind kleine weiße Würmer in ihr herumgekrochen. Das sah ulkig aus.
    Er muss den Vogel verschwinden lassen, bevor Mama zurück in den Garten kommt. Rasch holt er die Schippe, hebt das Tier damit auf und trägt es zu dem Loch unter dem Birnbaum. Er lässt es hineinfallen und verteilt die wenige Erde, die er ausgehoben hat, über dem Grab. Der Vogel ist kaum bedeckt, aber es genügt. Jetzt muss er sich allerdings einen neuen Platz für seinen Schatz suchen. Aber das macht nichts, die Stelle unter dem Birnbaum war sowieso doof.

39

    Samstag, 19. September
    Den ganzen Vormittag hatte es geregnet, aber jetzt brach die Sonne zwischen den Wolken hindurch, und die Pfützen dampften. Lydia genoss die Wärme auf ihrem Gesicht, während sie das Rathausufer entlanglief. Bisher hatte sie es vermeiden können, Brandau zu begegnen. Sie war sich sicher gewesen, dass sie ihn nach Ablauf der Frist laufen lassen mussten, aber Schmiedel hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte einen guten Draht zum Haftrichter und diesen überzeugt, dass es besser sei, Brandau trotz der

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