Der Seele weißes Blut
dürftigen Beweislage noch übers Wochenende festzuhalten. Sie betete, dass sich möglichst bald eine andere Spur auftun möge, aber es sah nicht gut aus.
Das Café war voll, es duftete nach Kaffee und frisch gebackenen Waffeln. Lydia blickte sich suchend um. An der Theke studierten zwei ältere Damen die Kuchenauswahl, ein Vater wischte verkleckertes Eis vom Pullover seiner kleinen Tochter, ein weißhaariger Mann beobachtete die Szene über seine Zeitung hinweg.
Die Therapeutin saß an einem kleinen Tisch in der hintersten Ecke, vor einer Tür, auf der »Privat« stand, und blätterte in einer Zeitschrift. Der Inhalt schien sie nicht sonderlich zu fesseln, rastlos huschte ihr Blick über die Seiten. Lydia schlängelte sich zwischen den eng stehenden Tischen hindurch.
»Tut mir leid, es ist ein bisschen später geworden.«
Frau Förster streckte die Hand zur Begrüßung aus. »Das macht nichts.« Sie winkte dem Kellner. »Was möchten Sie trinken?« Sie bestellte einen Milchkaffee für Lydia und für sich einen weiteren Tee. Bis die Getränke auf dem Tisch standen, sprachen sie nicht über den Grund ihres Treffens. Lydia fand es befremdlich, der Frau, die mehr über sie wusste als jeder andere Mensch, so zwanglos im Café gegenüberzusitzen. Es erschien ihr unpassend.
Schließlich nahm sie einen Schluck von ihrem Kaffee und fragte: »Sie wollten mir etwas über die Morde mitteilen?«
Die Ärztin nickte. »Ja. Aber ich möchte vorher etwas klarstellen. Wir haben uns hier außerhalb meiner Praxis getroffen, sozusagen auf neutralem Terrain. Trotzdem ist es möglich, dass wir nach diesem Gespräch die Rollen von Therapeutin und Patientin nicht mehr aufrechterhalten können. Was ich Ihnen zu sagen habe, könnte sich auf unser Vertrauensverhältnis auswirken. Über dieses Risiko sollten Sie sich im Klaren sein. Ich empfehle Ihnen in diesem Fall natürlich gern eine Kollegin.«
Lydia rutschte auf die Stuhlkante. »Sie halten das, was Sie mir sagen wollen, für wichtig?«
»Ja.«
»Dann schießen Sie los.«
Die Ärztin beugte sich vor und senkte die Stimme. »Was ich Ihnen erzähle, ist vertraulich. Ich bitte Sie, das in jedem Fall zu respektieren. Und ich kann Ihnen keine Akteneinsicht gewähren oder detaillierte Informationen geben. Jedenfalls nicht ohne eine entsprechende richterliche Anordnung.« Sie schob ihre Teetasse von sich weg und rückte noch ein Stück näher an Lydia heran. »Zwei der drei Frauen, die ermordet wurden, waren meine Patientinnen.«
»Was?«, fragte Lydia ungläubig. Ihre Gedanken überschlugen sich.
»Kristina Keller kam seit fast zwei Jahren regelmäßig zu mir, immer am Montagnachmittag, also auch an dem Tag, an dem sie starb. Möglicherweise bin ich die Letzte, die sie lebend gesehen hat. Abgesehen von ihrem Mörder natürlich. Ein schrecklicher Gedanke.« Die Ärztin stockte und fuhr sich mit der Hand durch das rotblonde Haar. Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn, die Lydia noch nie zuvor aufgefallen war. »Valentina Frederiksen kannte ich noch nicht so lange. Etwa drei Monate. Beide waren Gewaltopfer. Kristina Keller wurde an ihrem Arbeitsplatz vergewaltigt, vermutlich von einem Kollegen. Der Mann trug eine Maske, deshalb war sie sich nicht sicher. Valentina Frederiksen wurde als Kind missbraucht.« Sie nahm einen Schluck Tee. »Ich weiß nicht, wie das mit Ihrem zweiten Opfer ist, aber in der Zeitung stand etwas von Spuren älterer Misshandlungen. Ich nehme an, auch sie hatte Erfahrung mit Gewalt.«
Lydia schluckte. Ihre Gedanken rasten immer noch. Bilder drängten sich in ihr Bewusstsein. Die Fische in ihrer Wohnung, in der Dusche, auf dem Laptop. Aber sie war nicht wehrlos. Nicht mehr. »Sie glauben, das ist es, was den Täter reizt? Dass die Frauen schon einmal Opfer waren?«
Die Therapeutin nickte. »So etwas in der Art. Vielleicht vermittelt ihm das ein Gefühl von Sicherheit, die Gewissheit, dass diese Frauen sich wahrscheinlich nicht sehr heftig zur Wehr setzen werden. Sie sind besonders verletzlich und daher leichte Beute. Aber ich glaube nicht, dass es lediglich um diesen pragmatischen Aspekt geht.«
»Die Hilflosigkeit törnt ihn an.«
»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.«
Lydia umklammerte nachdenklich ihre Tasse. »Eins verstehe ich nicht. Wie findet er sie? Woher kennt er ihre Geschichte? Was ihnen widerfahren ist, steht ihnen schließlich nicht auf der Stirn geschrieben.« Dann fiel ihr etwas ein. Zwei der Opfer waren Dr. Försters Patientinnen
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