Der Seelenbrecher
Caspar schloss mit seinen Fingern vorsichtig die Augenlider des Klinikleiters. Nicht aus Gründen der Pietät, sondern weil er instinktiv die ersten Anzeichen der Totenstarre prüfen wollte.
Woher weiß ich das? Woher weiß ich, dass Leichenflecke schon nach dreißig Minuten, die Anzeichen der Totenstarre aber erst nach ein bis zwei Stunden und dann zuerst am Auge sichtbar werden?
Er konnte sich keine Antwort darauf geben. Nur eines wurde ihm schmerzhaft bewusst, genau in der Sekunde, in der Yasmin hinter ihm wütend gegen einen Instrumentenschrank trat und Bachmann fassungslos die Arme hinter seinem Schädel verschränkte. Ein Teil in ihm war froh, ja fast dankbar für das Grauen, das sich um ihn herum abspielte. Denn es lenkte ihn ab. So entsetzlich der Spuk auch war, er sorgte dafür, dass er sich nicht mit einem noch viel schrecklicheren Ungeheuer auseinandersetzen musste. Mit sich selbst.
Ich komm bald wieder, und dann wird alles gut werden, mein Schatz. Alles wird so wie früher. Mach dir keine Sorgen, Süße, okay? Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich werde dich da wieder rausholen, und dann … Sein Magen rumorte, und er fragte sich, ob das wirklich Übelkeit oder eher die Lebensgeister seines wahren Ichs waren, die sich wütend zu Wort meldeten.
»Darf ich mal?«, sagte Bachmann neben ihm und klang so, als hätte er diese Frage schon mehrfach gestellt. Caspar trat zur Seite. Er versuchte sich wieder auf das zu konzentrieren, was um ihn herum gesprochen wurde. Doch es gelang ihm nicht. Er starrte auf Raßfelds Leiche, und seine Gedanken wurden immer wirrer.
Vielleicht bin ich ja nur ein Bote? Ein Trojanisches Pferd mit einer todbringenden Fracht im Inneren meines Körpers, die nur auf die richtige Gelegenheit wartet, um hervorzubrechen?
Die unerklärliche Ursache seiner Amnesie, die ihn ausgerechnet vor die Tore dieser eingeschneiten Psychoklinik führen musste, und die Tatsache, dass er das Gesicht des Seelenbrechers schon mehrfach in seinen Träumen gesehen hatte, erschienen ihm auf einmal wie zwei Parameter in einer Gleichung mit drei Unbekannten, die er nicht lösen konnte, weil sein traumatisiertes Gehirn seine Gedanken immer wieder auf ein stillgelegtes Abstellgleis setzte, das zu seiner Tochter führte.
Was habe ich getan?
»Der ist erstickt«, diagnostizierte Schadeck. Caspar nahm seine Stimme wie durch eine dicke Wand wahr. Er nickte. Der Sanitäter hatte recht. Das aufgedunsene Gesicht konnte nicht von den Verwesungsgasen herrühren, dafür hatte Raßfeld in einer zu gut gekühlten Umgebung gelegen. Alles sprach dafür, dass der Professor bewusstlos gewesen war, als ihn der Seelenbrecher in das luftdichte Kühlfach geschoben hatte.
Caspar wollte noch einmal die Totenstarre prüfen, als das Rasseln begann. Hinter ihm. Er drehte sich um, ganz langsam, davon überzeugt, in eine Falle gelaufen zu sein. Das Geräusch eben hatte geklungen wie der wässrige Atem ihres Jägers, die Begleitgeräusche seiner Halsverletzung. Doch zu seiner Erleichterung war es nicht Jonathan Bruck, der sich hinter ihnen angeschlichen hatte, sondern Sophia, die sich in diesem Moment in ihrem Rollstuhl aufbäumte.
»O Scheiße«, stöhnte Yasmin und trat einen Schritt zurück.
»Was ist mir ihr?«, fragte Greta, die von allen die größte Geistesgegenwart bewies, indem sie zu Sophia ging und ihr mit einem Taschentuch den Speichel aus dem Mundwinkel tupfte.
»Sie hat sich vermutlich nur verschluckt«, log Caspar und verheimlichte ganz bewusst die Definition des medizinischen Lexikons, die er aus einem unerklärlichen Grund auswendig hätte herunterbeten können:
Todesrasseln. Umgangssprachlicher Ausdruck, meist vom Krankenhauspersonal für die respiratorischen Laute benutzt, die den Beginn des Sterbeprozesses einläuten, sobald der Patient seinen Schluckreflex nicht mehr steuern kann. Sie dauern im Schnitt siebenundfünfzig Stunden und sind in der Regel so unangenehm und unheimlich für Mitpatienten, dass die Sterbenden meist in Einzelzimmern isoliert werden.
Ich muss Arzt sein , dachte er nicht zum ersten Mal und wunderte sich gleichzeitig, warum ihm dieser Gedanke so unangenehm war, dass er Gänsehaut bekam. Was wäre daran so schlimm?
Es würde sein Wissen erklären, ebenso die Erinnerung an das Diktiergerät, in das er vermutlich an seinem Schreibtisch einen Patientenbericht gesprochen hatte.
Deshalb also schossen Vokabeln wie ›katatonische Starre‹, ›Wachkoma‹ und ›Locked-in-Syndrom‹ durch seinen Kopf,
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