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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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das ganze Viertel in letzter Zeit immer mehr herunterkomme.
    Und wenn ihr wirklich etwas zugestoßen war?
    Er verdrängte den Gedanken sogleich wieder und lief los.
    Bald mündete die Canal Street in die Bowery. Regennasse Pflastersteine schimmerten wie Wellen eines sturmgepeitschten Meeres. Baugruben gähnten wie Schlünde. Bogenlampen flimmerten hoch über ihm und verbreiteten ein krankhaft helles Gleißen, gegen das die Schatten der Hochbahn noch schwärzer und unheimlicher wirkten. Die Wasserpumpe befand sich unter dem Eisengerüst der Hochbahn. Sascha mochte gar nicht daran denken, wer sich um diese späte Stunde dort alles herumtrieb.
    Sascha hatte die Bowery noch nie so verlassen erlebt. Keine Menschenseele, nicht einmal die sonst üblichen Betrunkenen oder Zauberabhängigen. Das einzig Menschliche war das Konterfei Harry Houdinis, das von einem sechs Meter hohen Werbeplakat über dem Vordach des Thalia-Theaters herabgrinste.
    Sascha überquerte die Straße, straffte die Schultern und trat in den Schatten unter der Hochbahn.
    Sobald sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, bemerkte er den Eimer neben der Pumpe – seine Mutter musste ihn dort fallen gelassen haben. Und jetzt entdeckte er auch sie, wenige Schritte weiter lag seine Mutter offenbar bewusstlos auf den Pflastersteinen. Im nächsten Augenblick kniete er neben ihr und strich vorsichtig über ihr Gesicht.
    »Mama«, sagte er, als sie schließlich die Augen aufschlug, »was ist denn passiert?«
    Sie schaute ihn an, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen. Dann strich sie sich mit der Hand über die Stirn und schüttelte sich. »Ich … weiß es nicht.«
    Er half ihr auf die Beine und wollte schon den Eimer holen.
    »Lass das!«, fuhr sie ihn an, und dann in beherrschtem Ton: »Dein Vater und Mordechai können ihn später holen.«
    Sascha gehorchte oder zumindest wollte er das. Als er jedoch die Straße hinuntersah, stand da eine dunkle Gestalt, die ihnen den Weg versperrte. Erst dachte er, es sei Onkel Mordechai. Aber für den Onkel war die Gestalt zu klein.
    Und sie hatte etwas an sich, das ihm kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ.
    »Wer ist da?«, rief er. Es sollte nicht wie eine Frage, sondern wie eine Herausforderung klingen. Die Schattengestalt antwortete nicht, stattdessen ließ etwas die Luft erzittern. Und nicht nur die Luft, Sascha hätte schwören können, dass auch der Boden bebte. Durch die ganze Stadt schien ein Zittern zu laufen, wie wenn ein Pferd eine Fliege abschüttelt.
    Dann ertönte plötzlich das Gebimmel kleiner Glöckchen.
    Sascha erkannte den Klang sofort: Es waren
Streganonnaglöckchen
, wie sie die Italiener ans Zaumzeug ihrer Pferde hefteten, als Abwehr gegen den bösen Blick. Und tatsächlich bog in diesem Augenblick, aus der Mulberry Street in Little Italy kommend, ein wackeliger Karren in die Bowery ein. Sascha atmete erleichtert auf. Das musste ein italienischer Gemüsehändler sein, der für die Morgenfuhre auf dem Weg zu den East River Docks war. Und da er jetzt noch leer fuhr, würde er sie vielleicht bis nach Hause mitnehmen, das wäre viel sicherer, als zu Fuß durch die Bowery zu gehen.
    Aber kaum kam der Karren näher, hielt Sascha erschrocken den Atem an. Das Gefährt war ein notdürftig von Nägeln und Schnüren zusammengehaltenes Wrack. Der Klepper, der sich im Geschirr abmühte, hatte kaum die Kraft zu gehen, geschweige denn eine volle Fuhre zu ziehen. Dabei war der Karren bis oben hin voll beladen mit Lumpen und Knochen und all dem Kram, der einfach an den Straßenrand gestellt wird, wenn keiner mehr eine Verwendung dafür findet. Das war kein Gemüsehändler, sondern der Lumpensammler.
    Der Lumpensammler war eine Schreckgestalt, mit der Mütter in ganz New York ihren unartigen Kindern drohten. Sein Name wechselte von Viertel zu Viertel, doch sein Ruf war überall derselbe. Er sammelte Alteisen und Lumpen aller Art, aber auch abgenagte Knochen für die Leimfabriken. Aber die Leute sagten auch, er handle mit Träumen. Er kaufe Albträume und hebe Flüche auf. Und angeblich sollte er sich nicht zu schade sein, solche Flüche an Dritte weiterzuverkaufen. Die Rabbis wetterten zwar gegen solche Altweibergeschichten, aber dennoch machte jede Frau in der Hester Street das Zeichen gegen den bösen Blick, wenn der Lumpensammler vorüberging. Und sogar Saschas Mutter, die doch sonst so aufgeklärt war, hatte ihren Sohn vergangene Woche mit einem Knochen für den Lumpensammler hinunter auf die Straße

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