Der Seelenfänger (German Edition)
sein Vater, als Mrs Kessler davoneilte. »Sie hat gesehen, wie Kosaken ihr Haus niedergebrannt haben, ist zu Fuß durch halb Europa gelaufen und gestern hier in der Bowery überfallen worden – alles ohne eine Träne zu vergießen. Aber ihren Sohn kann sie nicht zur U-Bahn bringen, ohne sentimental zu werden.« Er hob vielsagend die Schultern. »Wie schon der große Rabbi Salomon Ben Gabirol sagte: ›Als Gott die Frau schuf, machte er zugleich das größte Geheimnis.‹ Hör mal, wir haben noch ein paar Minuten, ehe ich dich in die Bahn setze. Wie wär’s, wenn wir auf einen Kaffee ins Metropol gehen?«
Sascha sah seinen Vater verblüfft an. Das Café Metropol war Onkel Mordechais Revier. Ein Ort, wo junge Männer ihre Zeit vertändelten und Geld verschwendeten, das ihre Familien so dringend brauchten. Wenn sein Vater jetzt die Absicht hatte, Geld für zwei Kaffee im Metropol auszugeben und dort kostbare Minuten an der Theke zu stehen, dann musste wohl auch für ihn Saschas erster Arbeitstag ein wirklich gewichtiger Anlass sein.
Sascha traute sich nicht, den Mund aufzumachen, nickte nur und schlug mit seinem Vater den Weg Richtung Bowery ein.
Die Ecke der Hester Street mit Blick nach Norden auf die Bowery beeindruckte Sascha immer wieder, sooft er auch schon dort gestanden hatte. Es war fast so, als würde man mit einem Schritt ein Meer überschreiten. Die Hester Street war ein Teil der Alten Welt, wo Wäsche zum Trocknen auf Feuertreppen hing und einem aus jedem Hauseingang bekannte Gesichter entgegenlächelten. Aber die Bowery … Schon wie die Frauen aus der Nachbarschaft über die Bowery redeten, sagte eigentlich alles. Wenn sie Einkäufe in den vollgestopften kleinen Läden der Hester Street machten, hieß das in ihren Worten, mal kurz Brot, Eier, Milch oder auch Knöpfe holen gehen. Wenn sie aber in die Bowery gingen, dann erzählten sie später: »Heute war ich in Amerika.«
Und damit hatten sie recht. Das war Amerika. In den großen Schaufenstern wurde alles feilgeboten von Diamanten bis zu Registrierkassen. Die Hochbahn fuhr auf eisernen Stelzen wie in einem Roman von Jules Verne. Und alle zwölf Minuten – man konnte die Uhr danach stellen – kam hoch oben ein Zug dröhnend und Rauchwolken ausstoßend heran und ließ die Erde unter den Füßen beben.
Auch die Menschen waren anders. Sie bewegten sich anders, nicht wie Leute, die durch ihr Viertel spazierten, sondern mit Plan und Vorsatz, wie Arbeiter, die den alten Schlendrian abgelegt hatten, um in einem neuen Land und in einer neuen Zeit zu überleben. Zu den Stoßzeiten gingen polnische Schneider neben den Kindern der befreiten Sklaven, italienische Steinmetze neben irischen Torfstechern, und alle strömten hin und zurück wie im Getriebe einer großen Maschine. Ein Blick auf die Bowery war wie ein Blick in die Zukunft. Und montagmorgens um halb acht schien es die Zukunft eilig zu haben.
Sascha und sein Vater ließen sich von der Flut der einströmenden Pendler mittreiben, bis sie die Ecke Grand Street erreichten. Hier scherten sie aus und stolzierten durch die polierten Mahagonitüren des Café Metropol.
Das Café Metropol war die geistige Heimat eines jeden europäischen Intellektuellen, den es nach New York verschlagen hatte. Der arrogante Kellner, von dem man bedient wurde, besaß vermutlich ein Diplom in Theoretischer Magie der Universität Budapest oder hatte in Heidelberg den Doktorgrad in Nekronomie erworben. Der Typ im abgerissenen Anzug, der am Nebentisch Kaffee trank, war vielleicht ein hochgeschätzter Kabbalist oder ein radikaler wiccanistischer Philosoph oder ein exilierter Aristokrat einer großen europäischen Zaubererdynastie.
Selbstverständlich wurde im Metropol nicht tatsächlich gezaubert, aber für die New Yorker Inquisitoren war es der ideale Ort für ihre berüchtigten Razzien. Und es gab unter der Stammkundschaft des Metropols Zauberer und Hexen mit akademischen Titeln der führenden europäischen Universitäten, manche behaupteten sogar, es wären auch ein oder zwei Großmeister der Magie darunter. Eines stand fest: Wer auf einen Kaffee ins Metropol kam, der trank nicht einfach nur Kaffee, sondern nahm auch die tausendjährige Tradition der alteuropäischen Magie in sich auf.
Um diese Tageszeit drängten sich hier viele einfache Arbeiter, die auf dem Weg zu den Docks oder Fabriken ihren Morgenkaffee tranken. Alle schienen zu wissen, dass am heutigen Tag Saschas Ausbildung begann, denn von allen Seiten rief man
Weitere Kostenlose Bücher