Der Seelenfänger (German Edition)
Vater längst auf den Beinen.
Er kroch aus dem Bett und wappnete sich für den Fußmarsch durch die Kälte bis zur Wasserpumpe. Seine Mutter hatte aber schon ein frisches Handtuch bereitgelegt und goss nun für ihn warmes Wasser in eine Waschschüssel. Und damit nicht genug: Neben dem Teller seines Vater stand ein zweiter Teller auf dem Tisch, darauf lagen ein dickes Stück
Nudelkugel
und eine große Portion gehackte Heringe mit Ei und Zwiebeln.
Während sie eine Scheibe Brot für ihn abschnitt, wies sie auf den freien Platz. »Setzt dich und iss! Du brauchst heute all deine Kraft!«
Von so viel Aufmerksamkeit überwältigt sah Sascha sie an. Gestern war er noch ein Kind gewesen. Heute behandelte ihn seine Mutter genauso wie seinen Vater – wie einen erwachsenen Mann, der sich auf den Weg zur Arbeit machte.
So verrückt es auch schien, sie hatte recht. Selbst ein niedrig bezahlter Auszubildender bei der Polizei verdiente mehr Geld als sein Vater mit seinen Zwölfstundenschichten in den Docks. Sascha hatte ihm tagelang nicht in die Augen sehen können, als er das herausgefunden hatte. Aber was ließ sich da tun? Amerika war nun einmal die Neue Welt, in der die alten Regeln nicht galten.
Erst als er am Tisch saß und tüchtig zulangte, fiel ihm noch etwas auf. Seine Mutter tat all das für ihn, obwohl sie noch vor wenigen Stunden ausgeraubt und bewusstlos geschlagen auf der Straße gelegen hatte.
»Wie geht es dir?«, erkundigte er sich.
»Wie soll es mir denn gehen?«
»Na, ich meine nach allem, was gestern Abend …«
Seine Mutter machte verächtlich »pff«, als wäre der gestrige Überfall und der Verlust ihres liebsten Besitzes nur eine Lappalie. »Sei still und iss dein Frühstück!«
Sascha gehorchte, er hatte schließlich keine andere Wahl. Aber wundern musste er sich doch. Er hatte genug Abenteuergeschichten in
Boys Weekly
gelesen, um zu wissen, dass jede normale amerikanische Mutter nach solch einem Schock immer noch im Bett liegen und in ihr Taschentuch weinen würde. Sascha war nicht sicher, was er davon halten sollte. Einerseits wünschte er sich oft, seine Eltern würden sich normaler verhalten und nicht so …, na ja …, wie Fremde. Andererseits hätten normale Eltern es wohl nie geschafft, Beka und ihn nach Amerika zu bringen. Wie man es auch nahm, offenbar hatte seine Mutter den Verlust verwunden und wollte nicht mehr darüber reden. Und soweit er seine Mutter kannte, hätte man sie mit Versuchen, Mitgefühl zu zeigen, nur erbost. Übrigens genau wie Mr Kessler, wenn man gesagt hätte, sein Husten werde jeden Winter schlimmer, ob er denn nicht daran denke, sich ein bisschen zu schonen, jetzt, wo Sascha alt genug sei, selbst Geld zu verdienen.
Das Morgenkonzert aus dem Geklapper von Mülltonnen und Aschekübeln hatte gerade begonnen, als die drei gemeinsam zur Arbeit aufbrachen. Onkel Mordechai war spätabends heimgekommen und schlief deshalb vor der Tür auf einem Haufen halb fertiger Kleidungsstücke, die Mrs Lehrer dort abgelegt hatte. Sie stiegen über ihn hinweg, wobei Saschas Vater sich die Bemerkung nicht verkneifen konnte, dass ein Mann, der so lange in den Morgen hineinschlafe, selbst schuld sei, wenn man auf ihm herumtrampele. Dann schlichen sie durch das rückwärtige Zimmer, ohne das Ehepaar Lehrer aufzuwecken, und verließen die Wohnung. Sie tasteten sich das dunkle Treppenhaus hinunter und traten hinaus in den grauen New Yorker Morgen.
Auf den Stufen des Hauseingangs blieben sie stehen, um sich zu verabschieden. Sein Vater musste nach Osten Richtung Docks, seine Mutter nach Westen in die Pentacle-Textilfabrik. Und Saschas Weg führte nach Norden zum Astral Place, wo er die U-Bahn nehmen würde.
Aber seine Mutter war noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Sie sah ihn an und schien etwas sagen zu wollen, aber nicht die passenden Worte zu finden. Dann wandte sie sich ab und schaute den Müllmännern bei der Arbeit zu, als hätte sie seit Wochen nichts Spannenderes gesehen. Sie suchte in ihrer Tasche, fand ein Fünfcentstück und drückte es Sascha in die Hand.
»Danke«, sagte Sascha verlegen.
»Man soll nicht denken, ich hätte dich mit schmutzigen Schuhen zum Arbeitsantritt geschickt.«
Sie nahm ihr Taschentuch, schnäuzte sich und wischte verstohlen ihre Augen.
Sascha umarmte sie und wollte ihr auch einen Kuss geben, aber sie schob ihn weg. »Genug herumgetrödelt. Oder willst du gleich am ersten Tag zu spät kommen?«
»Da werde einer schlau aus dieser Frau«, sagte
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