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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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geschickt. »Rasch, Sascha«, hatte sie ihm befohlen, »wirf das auf seinen Karren! Ich habe gestern Nacht geträumt, jemand würde sterben.«
    Der Lumpensammler zog die Zügel seines Kleppers an und schaute auf die Hochbahn. Sascha konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er wusste, dass es so verschrumpelt und trocken aussah wie der Tod selbst. Jetzt wandte der Mann sich erst Sascha zu und blickte dann zu der Gestalt im Schatten. Die beiden starrten sich an, bis die Schattengestalt schließlich wegschaute und verschwand.
    Sascha überlegte einen Augenblick, was dieses stumme Duell der Blicke zu bedeuten hatte. Er fand keine Erklärung und verdrängte den Gedanken daran. Es spielte auch keine Rolle, denn jetzt ging es nur darum, seine Mutter wieder heil nach Hause zu bringen.
    Jemand rief seinen Namen. Es war Mo Lehrer, der aufgeregt winkend auf sie zugerannt kam. Der Lumpensammler erblickte Mo, nickte Sascha zu, ließ die Zügel auf die Kruppe seines Kleppers klatschen und zuckelte mit dem Karren weiter.
    »Hast du das gesehen?«, fragte Sascha den atemlosen Mo.
    »Was denn?«
    »Ach nichts. Gehen wir.«
    An der Ecke zur Hester Street kam ihnen Mr Kessler entgegen.
    »Gott sei Dank, ihr seid wohlauf!«, rief er ihnen zu. Dann sah er das Gesicht seiner Frau. »Was ist passiert? Bist du überfallen worden?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Mrs Kessler immer noch etwas benommen. »Da war jemand, aber … ich kann mich an nichts weiter erinnern.«
    »Bist du verletzt?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Hat dich jemand ausgeraubt?«
    Saschas Mutter sah verwirrt aus. Sie durchsuchte ihre Taschen und holte ein paar armselige Münzen hervor, die nur einen völlig verzweifelten Dieb hätten locken können. »Vielleicht hat Sascha ihn gestört.«
    »Na dann …«, sagte Mo. »Ende gut, alles gut.«
    Erst zu Hause merkten sie, dass doch etwas fehlte. Nach ein paar Tassen Tee sah Mrs Kessler wieder klarer. Sie rieb sich den Nacken – und stöhnte plötzlich auf. »Mein Medaillon!«
    Es war weg. Über dem Kragen ihres Kleides, wo sonst das Silberkettchen des Medaillons saß, war ein rötlicher Striemen, den ihr der Dieb beim Wegreißen beigebracht hatte.
    Am liebsten wäre sie sofort wieder hinausgegangen, um danach zu suchen. Aber Saschas Vater erlaubte das nicht, stattdessen machten sich er und Sascha auf die Suche. Nach einer Stunde kamen sie wieder, ganz mit Ruß und Schmutz bedeckt. Sie hatten jeden Quadratzentimeter auf dem Platz unter der Hochbahn abgesucht, vergebens. Das Medaillon blieb unauffindbar.
    »Lass dich trösten, Ruthie«, sagte sein Vater und klopfte ihr verlegen auf die Schulter.
    Sascha fehlten die Worte. Das Medaillon war das Wertvollste, was seine Mutter besaß. Es enthielt drei Babylocken: eine von Beka, eine von Sascha und eine von ihrem Bruder, der als Baby auf der Schiffsreise von Russland nach Amerika gestorben war. Die Mutter sprach nie über dieses Kind. In der Hester Street vermied es jeder, viel über die Vergangenheit zu sprechen, sonst wurde man verrückt wie Mrs Lehrer. Aber einmal war Sascha früher als gewöhnlich aus der Schule heimgekommen und hatte seine Mutter allein am Küchentisch sitzen sehen. Sie betrachtete das Medaillon und weinte, als wäre das Kind erst gestern gestorben.
    »Sei nicht traurig«, tröstete er jetzt seine Mutter. Es waren nicht die richtigen Worte, aber ihm fiel nichts anderes ein.
    »Schon gut, Sascha.« Seine Mutter wischte sich die Tränen mit dem Schürzenzipfel weg und zwang sich zu einem Lächeln. »Ist ja bloß ein dummer Schmuck.«
    Dann galt ihre ganze Sorge Sascha und seinem Vater. Sie schimpfte, weil beide ihre nassen Schuhe und Strümpfe noch nicht ausgezogen hatten, und nötigte sie, heißen Tee zu trinken, als wäre eine Erkältung das Schlimmste, was ihrer Familie jemals zustoßen könnte.
    Sascha beruhigte sich langsam wieder und ließ sich bemut-tern – wenn seine Mutter einmal loslegte, musste man sie sowieso gewähren lassen. Doch seine Gedanken wanderten zurück zu der Schattengestalt unter der Hochbahn. War der Späher nur ein Passant oder der Dieb gewesen? Aber was war das für ein Dieb, der sich nicht für die Schmuckläden, die reichen Touristen und die betrunkenen Seeleute auf der Bowery interessierte, sondern stattdessen einer Frau ein Medaillon stahl, das für jeden Kriminellen mit Ehrgefühl ein viel zu armseliges Diebesgut wäre?

4   Sascha gibt ein Versprechen
    Als Sascha am nächsten Morgen aufwachte, waren seine Mutter und sein

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