Der Seelenfänger
die Türe sich schloß. Jeden Monat wurde ein anderes Band für die Anrufer vorbereitet. Der Text wurde leicht verändert und das Lied ausgetauscht, aber sonst blieb das Schema gleich. Natürlich kostete es die Kirche eine Menge Geld, die Anrufer warten zu lassen, denn sie trug ja die Kosten für die Gespräche. Aber nur auf diese Weise gelangten sie mit einiger Sicherheit in den Besitz der Adressen, die dem Computer eingespeist werden konnten.
Die Kontaktzentrale der Kirche befand sich in einem eigenen Bürohaus in Fort Worth. Churchland hätte keinen Platz gehabt für die hundert festangestellten Techniker und Berater und die weit über achthundert Freiwilligen, die den Telefondienst rund um die Uhr aufrechterhielten. Die meisten Berater waren während der Nachtschicht im Dienst, in der Zeit zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens. Das waren die einsamen Stunden, in denen die meisten Fernsehstationen abgeschaltet waren und die Leute mit ihren Ängsten und Zweifeln allein blieben.
Wenn die Berater den Telefonhörer abhoben, hörten sie als erstes die Adresse des Anrufers. Den Knopf, der die Verbindung herstellte, drückten sie erst, wenn sie den Namen und die Adresse in den Computer eingetippt hatten und die Angaben auf dem Bildschirm erschienen. Siebzig Prozent der Berater waren Frauen, aber das Wichtigste waren die Stimmen. Sowohl die Frauen als auch die Männer waren danach ausgesucht worden, ob ihre Stimmen freundlich und warm klangen. Die Berater sprachen die Anrufer mit ihren Vornamen an und stellten sich selbst mit den Namen vor, die sie für die Arbeit in der Kirche benutzten: Sie nannten sich Bruder und Schwester wie Angehörige eines geistlichen Ordens. Sie bedankten sich und fragten, was sie für den Anrufer tun könnten. Es schien, als ob sie stundenlang Zeit hätten, aber ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, möglichst viele Informationen über den Anrufer und seine Probleme zu sammeln und in den Computer zu tippen. Dann gaben sie ein paar vernünftige Ratschläge, meist mit den Bibelzitaten vermischt, die der Computer passend zur Problemlage des Anrufers ausgesucht hatte. Wenn nötig beteten die Berater auch mit dem Anrufer, aber in der Regel beendeten sie das Gespräch mit einem Hinweis auf die nächstgelegene Tochtergemeinde der Kirche. Sie kündigten dem Anrufer an, er werde schon bald vom Pfarrer dieser Gemeinde eine Einladung zu einem persönlichen Gespräch erhalten, selbstverständlich ohne jede Verpflichtung, der Kirche beizutreten oder eine Spende zu leisten. (In Wirklichkeit wurden die Briefe direkt von der Zentrale in Fort Worth verschickt - auf dem Briefpapier der örtlichen Kirchen mit den faksimilierten Unterschriften der Pfarrer. Aber die angeblichen Absender erhielten natürlich Kopien.) Wenn der Anrufer wollte, konnte er auch der Kirche der amerikanischen Christen in Churchland direkt einen Scheck schicken, um einen Beitrag zu den immensen Kosten der Telefonseelsorge zu leisten. Aber eine Verpflichtung dazu gab es nicht. Viel wichtiger war, daß der Anrufer auch in der schrecklichsten Katastrophe nie die Hoffnung verlor. Morgen wird alles viel besser - weil Jesus dich liebt.
In den vergangenen Jahren hatte die Zentrale durchschnittlich tausend Anrufe täglich verzeichnet, aber seit die Arbeitslosigkeit ständig neue Rekorde erreichte, hatte sich die Zahl auf zwölf-, dreizehnhundert erhöht und stieg immer noch weiter. Über neunzig Prozent der Anrufer spendeten fünf oder zehn Dollar. Wieviel sie dann später im einzelnen noch den örtlichen Kirchen oder bei Sammelaktionen stifteten, war schwer zu ermitteln, aber eine Repräsentativuntersuchung hatte ergeben, daß jeder Anruf insgesamt etwa dreißig Dollar erbrachte. Bei jährlich sechshunderttausend Anrufen summierten sich die Einnahmen also auf achtzehn Millionen Dollar.
Als er sein Büro verließ, war es bereits neun. Er betrat den privaten Fahrstuhl und fuhr in die Eingangshalle hinunter. Der uniformierte Wächter grüßte respektvoll. »Guten Abend, Dr. Talbot.«
»Guten Abend, Jeff«, erwiderte Preacher. »Was macht denn das Rheuma?«
»Ach, das ist wirklich viel besser geworden«, sagte der Wächter. »Ich glaube, Ihre Gebete haben geholfen, Dr. Talbot. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich brauche jetzt gar keine Tabletten mehr, um zu schlafen. Vielen Dank, Dr. Talbot.«
»Sie sollten nicht mir danken, Jeff«, sagte Preacher. »Danken Sie Jesus, daß er uns erhört hat. Seiner Gnade verdanken wir alles.«
»Das werde
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