Der Seelenfänger
Miß Kuhlmann zurück. Sie bedankte sich lächelnd, leicht vorgebeugt, die Arme in Höhe der Schultern, in einer Hand eine in rotes Saffianleder gebundene Bibel. Dann ging sie zur Mitte der Bühne und legte das Buch auf die Kanzel. Sie hob den Blick in die Menge, die unter ihren Augen verstummte. Schließlich begann sie zu sprechen. Ihre ruhige, freundliche Stimme wurde von den Mikrofonen bis in die entferntesten Winkel des Saales getragen. Obwohl sie nicht laut sprach, herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Sie warf einen Blick in die Bibel, und während sie las, ging die Kamera näher heran, so daß ihr Gesicht den gesamten Bildschirm ausfüllte, als sie den Kopf hob.
»Ich lese aus dem 1. Brief des Johannes, aus dem vierten Kapitel:
Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns.
Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, daß er uns von seinem Geist gegeben hat.
Und wir haben gesehen und bezeugen, daß der Vater den Sohn gesandt hat zum Heiland der Welt.
Wer nun bekennt, daß Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibet Gott und er in Gott.<«
Die Evangelistin schwieg einen Moment lang. »Bekennen und Zeugnis ablegen«, sagte sie dann, »diese Worte sind der Schlüssel zum Glauben und zur Erlösung. Aber wieviele von uns sind tatsächlich auch dazu bereit? Bekennen und Zeugnis ablegen. Nicht nur einmal im Jahr oder einmal im Monat, sondern täglich! Jeden Tag in der Woche.
Als ihr heute morgen aufgewacht seid, wer von euch hat da gedacht: Jesus ist Gottes Sohn, er hat mich erlöst. Jesus ist um meinetwillen am Kreuz gestorben, er hat mich von meinen Sünden erlöst.< Und wer von euch hat sich zum Frühstück gesetzt und seiner Familie, der Frau und den Kindern von diesen Gedanken erzählt? Wer von euch hat sich zu Jesus bekannt?«
Erneut blickte sie schweigend in die Versammlung. »Ich fürchte, es waren nicht viele«, sagte sie tadelnd. Dann wurde ihre Stimme plötzlich freundlich und hell. »Um so mehr freue ich mich, Ihnen heute einen jungen Mann vorstellen zu können, der Gottes Botschaft schon an viele dunkle und schwierige Orte gebracht und auf seinem Weg den Treibsand der Sünde und Korruption nicht gescheut hat. Jeden Morgen hat dieser junge Mann sich vor Augen gehalten, daß ihn Jesus erlöst hat, und von diesem Glauben legt er Zeugnis ab, jeden Tag. Die Geschichte dieses jungen Mannes hat mich begeistert, und ich glaube, sie wird auch Ihnen den Weg weisen. Deshalb habe ich ihn gebeten, seine Geschichte selbst zu erzählen.«
Die Tür des Künstlerzimmers ging auf, und ein junger Mann trat herein. »Dr. Talbot, Miß Kuhlmann ist fast soweit. Kommen Sie bitte mit.«
Preacher erhob sich. Joe und Lincoln blieben zurück. Der Schwarze grinste und zeigte die Faust mit erhobenem Daumen. »Los Preacher, gib’s ihnen!«
Lincoln wandte den Blick vom Monitor ab. »Betonen Sie bei ihr die fleischlichen Versuchungen ein bißchen stärker als sonst. Denken Sie daran, daß ihr Publikum vor allem aus Leuten besteht, die unter der Woche die Schnulzenserien ansehen. Ich habe für diese Show ein paar neue Fotos gemacht. Daran können Sie Ihre Geschichten am besten aufhängen.«
Preacher nickte. Der junge Mann zupfte ihn noch einmal am Ärmel, und Preacher folgte ihm in die Kulissen.
Der junge Mann zeigte auf einen Vorhang. »Wenn Sie Ihren Namen hören, gehen Sie da durch. Wenn Sie auf der Bühne sind, warten Sie einen Moment, damit Sie das Publikum sieht. Dann gehen Sie zu Miß Kuhlmann hinüber, die in der Mitte der Bühne auf einer Couch sitzt. Sie setzen sich bitte ans andere Ende der Couch, im rechten Winkel zur Gastgeberin. Das ergibt eine bessere Optik. Eine Wasserkaraffe mit Gläsern steht vor Ihnen auf dem Tisch. Ich halte Ihnen den Vorhang, damit Sie nicht stolpern.«
»Vielen Dank«, sagte Preacher.
Die Stimme der Evangelistin war deutlich zu hören. »Und jetzt, meine Freunde, bitte ich um Applaus für. Reverend C. Andrew Talbot.«
Der Vorhang wurde zur Seite gerissen, und Preacher trat ins grelle Scheinwerferlicht.
Katherine Kuhlmann zeigte überschwengliche Freude. Aber hinter all dieser zur Schau getragenen Freundlichkeit war die eiserne Entschlossenheit zu spüren, alles fest in der Hand zu behalten. Jede seiner Antworten wiederholte sie mit eigenen Worten und bog sie zurecht, bis sie ihr paßten. Preacher war beeindruckt von dieser Bestimmtheit. Diese scheinbar so zarte, nicht mehr ganz junge Frau schien
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