Der Seelenleser
drehten.
Er fand den Eingang, zog ein Paar Latexhandschuhe über und steckte den nachgemachten Schlüssel ins Schloss. Er spürte ein leichtes Aufflattern seiner Anspannung, bevor er den Raum betrat. Und die Tür hinter sich schloss.
Dunkelheit. Er nahm wieder das LED -Licht in die Hand und ließ einen kleinen Strahl zwischen den Fingern hindurch. Und dort war sie, in ihren Schoß zusammengesackt, die Stirn auf den Knien. Das lange schwarze Haar hatte sich wie ein Tuch über ihre nackten Beine gelegt, das die Kälte abwehren sollte.
In Ordnung. Jetzt blieb ihm nur noch die Frage: Er wusste, dass sie tot war, also warum zum Teufel hatte er angefangen zu denken, dass sie es vielleicht doch nicht war? Er hatte darüber nachgedacht und noch mehr nachgedacht, und schließlich hatte es ihn getrieben, hierherzufahren, um nachzuschauen. Verdammt, Lore Chas magisches Denken schien sich wie Fadenwürmer in seinem Kopf auszubreiten und ihn von innen zu zerfressen.
Es sollte doch genau andersherum sein. Er trieb sich in ihrem Kopf herum, er fütterte ihrem Verstand immer neue Gedanken, und er tat es immer wieder, bis sie irgendwann implodieren würde. Sie, nicht er. Was war das für ein Mist, der ihn dazu gebracht hatte, hierherzufahren, damit er nach dieser toten Drogensüchtigen sah?
Er setzte sich an den Tisch in der Essnische und schaute Traci Lee an.
Seine Gedanken wanderten in der Zeit zurück, und er erinnerte sich an das erste Mal in Peschawar–
Schritte auf dem Korridor stoppten plötzlich. Er lauschte. Dann waren die Schritte wieder zu hören. Sie entfernten sich, und es war wieder unendlich still.
Er hatte einen Pakistani verhört, der für den ISI , den militärischen Nachrichtendienst der pakistanischen Streitkräfte gearbeitet hatte. Der Agent hatte viel Zeit in New York verbracht und sprach ein hervorragendes Englisch. Kroll hatte mitbekommen, dass der Mann, während er in New York lebte, wegen seiner verkorksten Vergangenheit regelmäßig bei einem Psychoanalytiker gewesen war. Kroll überredete seine New Yorker Kollegen, in die Praxis des Psychiaters einzubrechen, dessen Notizen zu kopieren und sie ihm nach Peschawar zu schicken.
Der Pakistani war ein Doppelagent, vielleicht auch ein dreifacher oder einfach durchgeknallt: Das konnte er nicht genau sagen. Der Kerl war so kaputt, dass sie irgendwann beschlossen hatten, ihn auf den Hof zu schleppen und einfach hinzurichten. Kroll hatte sich eingemischt und sie überzeugt, den Mann stattdessen ihm zu geben. Er versprach ihnen, dass das Schicksal des Mannes am Ende das gleiche sein würde. Es würde nur ein wenig länger dauern. Sie hatten zugestimmt. Es war ihnen egal.
Die nächsten Monate über arbeitete Kroll mit dem Pakistani. Er wusste aus den Unterlagen des Psychiaters, was die Macken, was die Zwangsvorstellungen des Mannes waren. Er kannte seine heimlichen Ängste, seinen Wahn. Der Mann wurde von all den Verbrechen gequält, die er begangen hatte, und auch vom Inzest in seiner Familie. Von den Schrecken seiner Kindheit. Von Schuldgefühlen. Von Fantasien, von Verzweiflung. Er schleppte alle Trümmer seines Lebens mit sich herum, die finsteren Geheimnisse, die Leute immer im Leben der anderen suchen, aber nie bei sich.
Kroll verwendete die ganze üble Mischung, um daraus einen Extrakt des Schrecklichen zu erzeugen. Nach ein paar Monaten, in denen er dem Mann seine Albträume immer wieder eingetrichtert hatte, hatte Kroll dessen Verstand so sehr vergiftet und verdreht, dass er unter bestimmten Umständen in Krolls Sinne handeln würde.
An einem heißen Sommernachmittag holte er den Pakistani aus seiner Zelle und brachte ihn in einen kleinen Hof, der von Mauern aus Lehmziegeln umgeben war. Sie setzen sich im Schatten von schwarzen Maulbeerbäumen auf Holzstühle. Die nackten Füße des Pakistani berührten den heißen Boden. Der Mann war derart abhängig geworden, dass es für ihn nicht einmal mehr von Bedeutung war, dass er zum ersten Mal seit Monaten wieder an der frischen Luft war.
Kroll reichte dem Mann eine Zigarette, gab ihm Feuer und zündete sich dann selbst eine an. Sie rauchten. Als der Pakistani fertig war, griff Kroll in die Innentasche seines Jacketts und drückte dem Mann seine Beretta in die Hand. Der Mann hätte sie einfach auf Kroll richten und ihn töten können. Doch stattdessen drehte er den Lauf der Beretta um und schoss sich ins Auge.
Kroll saß ganz still. Die LED -Leuchte hatte er an die Decke gerichtet, sodass Traci Lees
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