Der Seelenleser
Leiche nur noch leicht von dem kalten, blassen Licht angeleuchtet wurde.
Er wusste nicht mehr, wie lange er in diesem heißen Garten in Peschawar gesessen und auf den toten Pakistani gestarrt hatte, der neben seinem leeren Stuhl im Staub lag. Kroll war fasziniert gewesen. Er wusste, dass er etwas Erstaunliches entdeckt hatte: Der Verstand eines Mannes, seine eigenen Gedanken, konnten von anderen verwendet werden, um ihn zu vernichten. Plötzlich begriff er die unglaubliche, tödliche Macht der Dunkelheit, die es in der Seele jedes Menschen gab.
Bald darauf gelang es Kroll, das Experiment mit einem weiteren Gefangenen zu wiederholen… und dann mit noch einem und noch einem. Von Mal zu Mal wurde er effizienter darin, die trostlosen Gedanken der Person zu verwenden, sie dazu zu bringen, sich selbst zu töten. Doch das hatte sich in einer Umgebung abgespielt, in der seine Opfer in größter Not gewesen waren, in Geheimgefängnissen in Afghanistan, Pakistan und anderswo– in Ländern wie Albträumen.
Er hatte sich gefragt, ob er dies auch in einer » normalen« Umgebung erreichen konnte. Die Dunkelheit nistet schließlich in jedem Menschen. Man muss nur die Narbe aufkratzen und das Dunkle herausströmen lassen.
Kroll betrachtete Traci Lees zusammengesackten Körper, kollabiert im Unglück eines unwürdigen Todes.
Er wusste, dass er kurz davor war, eine revolutionäre Leistung zu erbringen. Psychiatrie und Psychoanalyse waren bislang nur als mögliche Wege der Heilung angesehen worden. Wenn er endlich beweisen konnte, dass er in der Lage war, den menschlichen Verstand gegen sich selbst zu wenden, die dunkle Seite der Seele dazu zu nutzen, dass dieser sich selbst zerstörte– wäre ihm Ruhm sicher.
Er betrachtete Traci Lees geschwollene Knöchel und ihre runden Schultern, in denen sich bereits Gas angesammelt hatte.
Er würde ihnen beweisen, dass er es konnte. Es würde sie alle umwerfen, sowohl die Zweifler als auch diejenigen, die ihm glaubten. Bei Lore würde es am einfachsten sein, und auch Elise würde sich beugen. Alles gesetzt den Fall, dass er nicht in den letzten beiden Treffen mit ihnen alles versaut hatte. Er würde schon bald herausfinden, wie seine Aktien standen.
Traci Lees lange schwarze Haare fielen über ihre bleichen Beine wie Schatten, die aus ihrem Kopf herausquollen.
Kapitel 26
Sie saßen an Fanes Lieblingstisch in Rose’s Café, in einer Nische gleich rechts vom Eingangsbereich, direkt neben dem Fenster zur Straße. Hier hatte er so viel Ruhe und Ungestörtheit, wie es in einem sehr beliebten Café gerade noch möglich war. Draußen herrschte Dauerregen, und das gemütliche Restaurant war ohnehin halb leer.
» Wir können uns im Moment unmöglich daraufkonzentrieren, herauszufinden was Kroll wirklich vorhat«, sagte Fane und schob die leere Kaffeetasse beiseite. » Dafür haben wir keine Zeit.«
» Vielleicht sollten wir den Fall doch dem FBI übergeben«, sagte Roma. » Vector Strategies? Wenn die darin verwickelt sind, haben wir dort nichts verloren. Dann müssen wir es abgeben.«
» Mal abwarten, was Shen für uns hat. Irgendetwas sagt mir, dass Kroll hier auf eigene Rechnung arbeitet, dann hat das nichts mit Vector zu tun.«
Er schaute in Romas müde Augen. » Ich möchte den Spieß umdrehen«, sagte er. » Nachdem wir mit Shen gesprochen haben, werde ich Vera sagen, dass sie die beiden Frauen einweihen muss. Sie müssen wissen, was geschieht. Wir müssen alle zusammentrommeln und besprechen, wie wir an Kroll herankommen.«
» Vera wird das nicht zulassen.«
» Falls sie retten will, was noch zu retten ist, muss sie es tun.«
Roma warf ihm einen skeptischen Blick zu, und er bemerkte zwei Regentropfen, die wie kleine Perlen an einer Strähne ihres pechschwarzen Haars direkt an ihrer rechten Schläfe saßen. Es war typisch für sie, dass sie sich dessen nicht bewusst war.
» Und du glaubst wirklich, dass sie das tun wird?«
» Ja, denn die Situation nagt ganz gewaltig an ihrer Seele«, nickte er.
Roma schüttelte den Kopf und richtete den Träger ihres BH s unter ihrer Bluse. Die ganze Sache ist total verrückt«, sagte sie. » Auf mich macht es den Eindruck, als hätte Kroll Elise grausamer behandelt als Lore. Und trotzdem ist Lore diejenige, die am meisten Angst vor ihm zu haben scheint.«
» Ich würde vermuten, dass der Grund dafür in Lores Unbewusstem liegt«, argumentierte Fane. » Kroll hat sich mitten in ihre Gedankenwelt hineinversetzt. Selbst wenn sie nicht in
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