Der Seelensammler
Ermüdung
der inneren Organe festgestellt.«
»Und wann habt ihr endlich verstanden, was wirklich los ist?«
Ein Schatten glitt über das Gesicht der Ärztin. »Als ihre Haare weiß
wurden.«
Der Jäger drehte sich zu der Patientin um. Soweit er das beurteilen
konnte, war das fast abrasierte Haar kohlrabenschwarz.
»Um die Symptome zum Verschwinden zu bringen, mussten wir sie nur
aus dem Zimmer der alten Frau entfernen.«
Der Jäger beobachtete das Mädchen und versuchte zu ergründen, ob
sich noch so etwas wie menschliche Gefühle hinter ihren ausdruckslosen Augen
verbargen. »Das sogenannte Chamäleon- oder Spiegelsyndrom«, sagte Valdés.
Die längste Zeit ihres Lebens war Angelina gezwungen gewesen, das zu
sein, was ihre Vergewaltiger von ihr verlangten: ein Lustobjekt, mehr nicht.
Also hatte sie sich angepasst – mit der Folge, dass sie sich selbst verloren
hatte. Nach und nach hatte man sie zum Verschwinden gebracht. Der jahrelange
Missbrauch hatte dem Mädchen jegliche Identität geraubt. Stattdessen borgte sie
sich die der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung aus.
»Wir haben es hier nicht mit einem Fall von multipler Persönlichkeit
zu tun. Sie gehört nicht zu den Menschen, die sich für Napoleon oder die
Königin von England halten«, sagte Valdés lachend. »Menschen, die am
Chamäleonsyndrom leiden, imitieren ihr Gegenüber perfekt. Vor einem Arzt werden
sie zu Ärzten, vor einem Koch behaupten sie, kochen zu können. Stellt man ihnen
Fragen zu ihrem Beruf, antworten sie vage, aber glaubwürdig.«
Der Jäger musste an die Patientin denken, die sich in den
Kardiologen hineinversetzt hatte, der sich gerade mit ihr unterhielt. Auf die
fingierte Frage nach einer bestimmten Herzerkrankung hatte sie geantwortet,
dass sie ohne weitere Untersuchungen nichts dazu sagen könne.
»Aber Angelina ahmt ihr Gegenüber nicht einfach nur nach«, erkläre
die Ärztin. »Der Kontakt mit der alten Frau hat bei ihr nachweislich einen
Alterungsprozess eingeleitet. Ihre Psyche hat messbare körperliche
Veränderungen hervorgerufen.
Eine Verwandlungskünstlerin!, dachte der
Jäger, der den medizinischen Fachbegriff kannte. »Kam es später noch zu weiteren
Symptomen?«
»Ja, aber die waren unbedeutend und haben nur wenige Minuten lang
angehalten. Die Personen, die unter diesem Syndrom leiden, haben entweder eine
Hirnverletzung oder wie Angelina einen Schock erlitten.«
Der Jäger fand die Fähigkeiten des Mädchens ebenso verstörend wie
faszinierend. Sie war der perfekte Beweis dafür, dass er sich in all den Jahren
nicht getäuscht hatte. Die Theorien, die er über seine Beute angestellt hatte,
waren bestätigt worden.
Der Jäger wusste, dass alle Serienmörder unter dem Druck einer
schweren Identitätskrise handelten: In dem Moment des Mordens spiegelten sie
sich in ihrem Opfer. Nur dann fanden sie zu sich selbst und mussten sich nicht
mehr verstellen. Im Akt des Mordens kam das Ungeheuer, das in ihren Abgründen
lauerte, endlich ans Tageslicht. Doch seine Beute, also der Mann, auf den er
Jagd machte, hatte nicht nur eine Identitätskrise: Er hatte überhaupt keine
eigene Identität. Und deshalb war er gezwungen, die von anderen zu rauben. Er
war ein einzigartiges Exemplar, ein äußerst seltener psychiatrischer Sonderfall.
Ein Serienmörder und Verwandlungskünstler.
Er gab sich nicht damit zufrieden, nur ein paar Eigenschaften
nachzuahmen, sondern verwandelte sich komplett. Und das war auch der Grund,
warum er als Einziger auf ihn aufmerksam geworden war. Sein einziger
Daseinszweck bestand nicht darin, jemandes Platz einzunehmen, sondern darin,
sich mit Haut und Haar in diesen Menschen zu verwandeln .
Niemand konnte ahnen, was er als Nächstes vorhatte. Der
Verwandlungskünstler verfügte über eine extrem rasche Auffassungsgabe – auch
was Sprachen und Akzente anbelangte. Im Lauf der Zeit hatte er seine Methode
immer mehr perfektioniert. Als Erstes suchte er sich eine geeignete Person aus,
einen Mann, der ihm körperlich ähnelte: jemanden mit seiner Statur und einem
nicht allzu markanten Gesicht. Jemanden mit äußeren Merkmalen, die sich leicht
nachahmen ließen. Jemanden wie Jean Duez aus Paris. Aber das Wichtigste war,
dass er keine Vergangenheit hatte, ungebunden war und ein eintöniges, geordnetes
Leben führte. Am liebsten jemand, der von zu Hause aus arbeitete.
Dann schlüpfte der Verwandlungskünstler in seine Haut, in sein
Leben.
Dabei ging er stets auf die gleiche Art vor: Er tötete ihn
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