Der Seelensammler
Geschehnisse
wohl mit Laras Verschwinden zu tun hatten.
»Jeremiah Smith hatte keinen Herzinfarkt. Er wurde vergiftet.«
»Es konnten keinerlei verdächtige Substanzen in seinem Blut
nachgewiesen werden«, erwiderte Clemente.
»Und trotzdem bin ich fest davon überzeugt. Es gibt keine andere
Erklärung.«
»Dann hat also jemand die Tätowierung auf seiner Brust wörtlich
genommen.«
Töte mich!, dachte Marcus. Irgendjemand zog heimlich im Hintergrund
die Fäden und hatte Monica, der Schwester von Jeremiah Smiths erstem Opfer,
genau wie Raffale Altieri Gelegenheit gegeben, sich für den erlittenen Verlust
zu rächen. »Wenn keine Gerechtigkeit mehr hergestellt werden kann, bleibt nur noch
die Alternative Vergebung oder Vergeltung.«
»Auge um Auge«, fügte Clemente hinzu.
»Ja, aber es steckt mehr dahinter.« Marcus schwieg und überlegte,
wie er seine sich immer mehr verfestigende These am besten in Worte fassen
konnte. »Jemand rechnet damit, dass wir eingreifen. Erinnerst du dich noch an
die Bibel mit dem rot samtenen Lesezeichen, die ich in Laras Wohnung gefunden
habe?«
»Die, in der der Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher
markiert war: Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.«
»Noch einmal, Clemente: Jemand weiß über uns Bescheid!«, sagte
Marcus mit wachsender Überzeugung. »Überleg doch mal: Raffaele hat er einen
anonymen Brief geschickt, und für uns hat er die Heilige Schrift hinterlegt.
Eine sehr passende Botschaft für uns Gottesmänner. Ich wurde nicht zufällig in
die Sache verwickelt, denn warum hätte man den Jungen sonst in Laras Wohnung
bestellen sollen? Und letztlich war ich derjenige, der ihm die Wahrheit über
seinen Vater gesagt hat. Dass der Anwalt Altieri erschossen wurde, ist meine
Schuld.«
Clemente drehte sich kurz zu Marcus um: »Wer kann das alles
eingefädelt haben?«
»Keine Ahnung. Aber wer immer es ist – er bringt Opfer und Mörder
zusammen. Gleichzeitig will er uns in die Sache mit hineinziehen.«
Clemente wusste, dass das nicht nur irgendeine verstiegene Hypothese
war, und das beunruhigte ihn. Umso wichtiger wurde ihr Besuch in Jeremiah
Smiths Villa. Bestimmt würden sie dort auf einen Hinweis stoßen, der sie noch
ein Stück weiter in dieses Labyrinth hineinführen würde. Und all das nur, weil
sie hofften, Lara noch retten zu können. Dieses Ziel war es, was sie
motivierte. Und genau darauf spekulierte der Urheber dieses Rätsels. Deshalb
hatte er das Leben der jungen Studentin als eine Art Belohnung ausgesetzt.
Ein Streifenwagen stand vor dem Eingangstor. Aber das Anwesen war zu
groß, um vollständig überwacht werden zu können. Clemente parkte den Panda in
etwa einem Kilometer Entfernung. Von dort aus gingen sie zu Fuß weiter und
verließen sich auf den Schutz der Nacht.
»Wir müssen uns beeilen, denn in wenigen Stunden kommen die von der
Spurensicherung zurück!«, sagte Clemente mahnend und beschleunigte seine
Schritte.
Durch ein Fenster auf der Gebäuderückseite gelangten sie in die
Villa. Das Polizeisiegel entfernten sie: Sie hatten gefälschte Siegel dabei und
würden die ursprünglichen dadurch ersetzen. Niemand würde ihr Eindringen
bemerken. Sie trugen Schuhüberzieher und Latexhandschuhe. Im Haus machten sie
ihre Taschenlampen an und schirmten den Lichtkegel mit der Hand ab, um sich
unbemerkt orientieren zu können.
Bis auf ein paar Zugeständnisse an die Moderne war das Haus
überwiegend im Libertystil eingerichtet. Sie betraten ein Arbeitszimmer mit
einem Mahagonischreibtisch und einer großen Bibliothek. Die Möbel zeugten von
einstigem Reichtum. Jeremiah war in einer großbürgerlichen Familie aufgewachsen,
die Eltern hatten mit ihrem Textilhandel ein kleines Vermögen verdient. Doch
ihre Arbeit beanspruchte sie dermaßen, dass Jeremiah ein Einzelkind blieb. Das
musste genügen, um den Fortbestand der Firma zu sichern. Doch bestimmt hatten
sie bald bemerkt, dass der einzige Erbe nicht in der Lage war, das Unternehmen
weiterzuführen und sie mit Stolz zu erfüllen.
Marcus beleuchtete mehrere Fotoalben, die ordentlich aufeinandergestapelt
auf einem Eichentisch lagen. In diesen verblichenen Bildern war die ganze
Familiengeschichte enthalten. Ein Picknick auf einer Wiese: Der erst wenige
Jahre alte Jeremiah sitzt auf dem Schoß der Mutter, während sein Vater beide
fürsorglich umarmt. Die Familienmitglieder auf dem Tennisplatz der Villa, im
makellosen Sportdress, die hölzernen Tennisschläger fest in den
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