Der Seelensammler
zu,
öffnete sie und wollte sich gerade in den Regen hinauswagen, als sie das Wort
ergriff.
»Stehen bleiben.« Sie sprach, ohne die Stimme zu erheben – im
Gegenteil, ihr Ton war eiskalt.
Marcus blieb stehen.
»Und jetzt umdrehen.«
Er gehorchte. Der gelbe Schein der Straßenlaternen war die einzige
Lichtquelle, trotzdem erkannte er, dass sie eine Pistole auf ihn gerichtet
hatte.
»Kennst du mich? Weißt du, wer ich bin?«
Marcus dachte kurz nach, bevor er antwortete. »Nein.«
»Und meinen Mann? Hast du ihn gekannt?« In ihrer Stimme lag keine
Wut. »Hast du ihn umgebracht?« In ihrer Stimme lag Verzweiflung. »Wenn du etwas
weißt, musst du es mir sagen. Ansonsten werde ich dich töten, das schwöre ich
dir!« Es war ihr voller Ernst.
Marcus schwieg. Er ließ beide Arme seitlich des Körpers herabhängen
und rührte sich nicht von der Stelle. Er erwiderte ihren Blick, hatte aber
keine Angst vor ihr. Stattdessen empfand er Mitleid.
Die Augen der Frau begannen zu glänzen. »Wer bist du?«
In diesem Moment kündigte ein Blitz einen noch lauteren,
ohrenbetäubenden Donner an. Das Laternenlicht flackerte kurz auf und
verlöschte. Straße und Sakristei waren auf einmal in Dunkelheit gehüllt.
Aber Marcus verschwand nicht sofort.
»Ich bin ein Priester.«
Als das Laternenlicht wieder anging, sah Sandra, dass er nicht mehr
da war.
EIN JAHR ZUVOR
MEXIKO-STADT
Das Taxi kam im Feierabendverkehr nur langsam vorwärts.
Die Latinoklänge aus dem Radio vermischten sich mit der Musik aus anderen
Autos. Wegen der Hitze hatten alle die Fenster heruntergelassen. Eine
unerträgliche Kakophonie war die Folge, aber dem Jäger fiel auf, dass trotzdem
jeder seiner eigenen Melodie folgen konnte. Er hatte den Fahrer gebeten, die
Klimaanlage anzumachen, doch die war angeblich kaputt.
Es war dreißig Grad warm in Mexiko-Stadt, und nachts sollte die
Luftfeuchtigkeit noch steigen. Die Smogglocke über der Metropole verschlimmerte
die Situation zusätzlich. Deshalb wollte er nicht lange bleiben. Er würde
seinen Job erledigen und anschließend gleich wieder abreisen. Trotz der
widrigen Umstände war er aufgeregt, dass er tatsächlich hier war.
Er musste es mit eigenen Augen sehen.
In Paris war ihm seine Beute nur knapp entkommen und hatte
anschließend, wie erwartet, ihre Spuren verwischt. Aber in dieser Stadt gab es
neue Hoffnung für den Jäger. Wenn er wieder zur Jagd blasen wollte, musste er
wissen, mit wem er es zu tun hatte.
Das Taxi setzte ihn vor dem Haupteingang des Ospizio Santa Lucia ab.
Der Jäger sah zu dem fünfstöckigen, baufälligen weißen Gebäude empor. So schön
die Kolonialarchitektur auch war – die Gitter vor den Fenstern ließen keine
Zweifel an ihrer Funktion aufkommen.
Genau das ist das Schicksal, das einen in einer psychiatrischen
Klinik erwartet, dachte er. Wer hier eingeliefert wird, kommt nie wieder raus.
Die Ärztin Florinda Valdés holte ihn am Empfang ab. Sie hatten sich
ein paar E-Mails geschickt, wobei er erstmals die falsche Identität eines
Psychologiedozenten aus Cambridge angenommen hatte.
»Herzlich willkommen, Dr. Foster«, sagte sie lächelnd und gab ihm
die Hand.
»Guten Tag, Florinda … Wollen wir uns nicht duzen?« Der Jäger sah
sofort, dass sich diese rundliche Frau um die vierzig vom weltläufigen Charme
eines Dr. Foster einwickeln lassen würde. Nicht zuletzt weil sie noch immer auf
der Suche nach einem Ehemann war. Er hatte sich genau über sie erkundigt, bevor
er mit ihr in Kontakt getreten war.
»Und, hattest du eine gute Reise?«
»Ich wollte schon immer mal nach Mexiko-Stadt.«
»Ah, das ist wunderbar: Ich habe bereits den perfekten Stadtrundgang
fürs Wochenende zusammengestellt.«
»Das ist ja großartig!«, rief er mit gespielter Begeisterung. »Dann
sollten wir uns gleich in die Arbeit stürzen, damit uns anschließend noch genug
Zeit bleibt.«
»Aber natürlich!«, flötete sie nichts ahnend. »Hier entlang bitte!«
Der Jäger hatte Florinda Valdés kontaktiert, nachdem er auf YouTube
ihren Vortrag auf einem Psychiaterkongress in Miami gesehen hatte. Er war bei
Recherchen zu Persönlichkeitsstörungen auf sie gestoßen. Wieder so ein
Glücksfall, der ihn darin bestärkte, dass er sein Ziel am Ende erreichen würde.
Und das würde ihn für sämtliche Entbehrungen entschädigen.
Valdés’ Vortrag hatte den Titel »Das Mädchen im Spiegel« gehabt.
»Natürlich darf nicht jeder x-Beliebige sie besuchen!«, betonte die
Ärztin, während sie durch die
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