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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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auch ein
Detail, das so einiges änderte: Wie in der Nacht zuvor, in der er sich an
berstendes Glas erinnert hatte, war auch das eine akustische Wahrnehmung. Aber
diesmal wusste er, dass sie wirklich von Bedeutung war.
    Er hatte drei klar voneinander unterscheidbare Explosionen gehört.
Bisher hatte er immer nur zwei Schüsse gezählt: einen, der ihm, und einen, der
Devok galt. In der jüngsten Variation seines Traumes war jedoch ein dritter
Schuss gefallen. Aber vielleicht spielte ihm sein Unterbewusstsein auch nur
einen Streich. Vielleicht wandelte es die Szene in dem Prager Hotelzimmer
beliebig ab und mischte irgendwelche absurden Geräusche oder Gegenstände dazu.
Und Marcus war nicht in der Lage, diese bizarren Auswüchse zu kontrollieren.
Andererseits hatte er diesmal das Gefühl, es immer schon gewusst zu haben.
    Der dritte Schuss war ein Detail, das seine bruchstückhafte
Erinnerung ergänzte. Es würde ihm dabei helfen herauszufinden, was tatsächlich
passiert war. Aber vor allem würde es dafür sorgen, dass er irgendwann wieder
das Gesicht des Mannes vor sich sah, der seinen Lehrer ermordet und ihn
gezwungen hatte, sich selbst zu vergessen.
    Drei Schüsse.
    Erst vor wenigen Stunden war Marcus erneut von einer Pistole bedroht
worden. Aber das war etwas ganz anderes gewesen. Er hatte keine Angst dabei
empfunden. Die Frau in der Kirche San Luigi dei Francesi hätte zwar abgedrückt,
da war er sich sicher. Aber in ihrem Blick hatte kein Hass, sondern Verzweiflung
gelegen. Einzig und allein der kurze Stromausfall hatte ihn vor ihrer
Entschlossenheit gerettet. In diesem Moment hätte er sofort verschwinden
können, doch stattdessen war er geblieben und hatte ihr gesagt, wer er war.
    Ich bin ein Priester.
    Aber warum? Warum hatte er das Bedürfnis gehabt, ihr das
anzuvertrauen? Er hatte ihr etwas mitgeben, sie für all ihr Leid entschädigen
wollen. Und das, obwohl seine Identität sein kostbarstes Geheimnis war, das um
jeden Preis gewahrt werden musste. Die Öffentlichkeit würde kein Verständnis
dafür haben. So lautete die Litanei, die ihm Clemente vom ersten Tag an
vorgebetet hatte. Und nun hatte er gegen diese Anweisung verstoßen, sich einer
Wildfremden offenbart. Wer auch immer diese Frau war, sie hatte gute Gründe,
ihn zu töten. Sie war fest davon überzeugt, dass er der Mörder des Mannes war,
den sie geliebt hatte. Trotzdem sah Marcus keine Feindin in ihr.
    Wer war sie? Inwiefern konnten sie und ihr Mann Teil seiner
Vergangenheit gewesen sein? Was, wenn sie mehr darüber wusste?
    Vielleicht muss ich sie suchen!, dachte er. Vielleicht muss ich mit
ihr reden.
    Aber das war leichtsinnig. Außerdem wusste er so gut wie nichts über
sie.
    Clemente würde er nichts davon erzählen, denn der würde seine
spontane Entscheidung bestimmt nicht gutheißen. Sie beide waren an einen heiligen
Eid gebunden, wenn auch jeder auf seine Weise. Sein junger Freund war ein
pflichtgetreuer, gehorsamer Geistlicher, während er von etwas beseelt war, das
er noch nicht verstand.
    Er sah auf die Uhr. Er hatte Clemente eine Nachricht auf dem
Anrufbeantworter hinterlassen. Sie mussten sich unbedingt noch vor Tagesanbruch
treffen. Denn vor wenigen Stunden hatte die Polizei die Durchsuchung von
Jeremiah Smiths Villa abgeschlossen.
    Jetzt waren sie an der Reihe, dem Haus einen Besuch abzustatten.
     
    —
     
    Die Straße wand sich zwischen den Hügeln östlich von Rom
hindurch. In wenigen Kilometern Entfernung lag der Küstenstreifen mit Fiumicino
und der Tibermündung. Der alte Fiat Panda erklomm mühsam die Steigung, und die
schwachen Scheinwerfer erhellten die Fahrbahn nur teilweise. Die Natur um sie
herum erwachte langsam und kündigte den Sonnenaufgang an.
    Clemente saß dicht hinterm Steuer, um besser sehen zu können. Oft
war er gezwungen, lautstark in einen anderen Gang zu schalten. Gleich nachdem
Marcus unweit dem Ponte Milvio zugestiegen war, hatte er ihm erzählt, was am Vorabend
bei Guido Altieri geschehen war. Sein Freund machte sich vor allem deshalb
Sorgen, weil das Fernsehen darüber berichtet hatte. Doch niemand hatte erwähnt,
dass noch ein dritter Mann zugegen gewesen war, als der berühmte Anwalt von
seinem Sohn ermordet worden war. Das beruhigte Clemente wieder: Noch war ihr
Geheimnis gewahrt.
    Natürlich berichtete Marcus nicht, was anschließend vorgefallen war.
Die Begegnung mit der bewaffneten Frau in der Kirche San Luigi dei Francesi
verschwieg er. Stattdessen überlegte er laut, was die jüngsten

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