Der Seelensammler
und löschte
sein Gesicht aus. Ganz so, als wollte er seine Identität für immer ausradieren,
indem er vom Recht des Stärkeren Gebrauch machte.
Er selbst bestimmte, welcher Spezies er angehören wollte.
Angelina dagegen war mehr als nur ein Beweis: Sie war ein zweites
Exemplar dieser seltenen Spezies. Doch etwas musste sich der Jäger noch
bestätigen lassen, denn die größte Herausforderung stand ihm noch bevor.
Wenn man sich so eine Begabung in Kombination mit
einem mörderischen Instinkt vorstellt …
Florinda Valdés’ Handy vibrierte, und sie verließ mit einer
Entschuldigung den Raum. Das war die Gelegenheit, auf die der Jäger gehofft
hatte!
Er hatte sich schlaugemacht, bevor er hergekommen war: Angelina
hatte einen jüngeren Bruder. Sie hatten nicht lange zusammengelebt, weil sie
schon als Fünfjährige verkauft worden war. Aber vielleicht war aus diesem
kurzen Zeitraum noch ein Rest Zuneigung übrig geblieben.
Für den Jäger war der Bruder der Schlüssel zum Gefängnis ihrer
Psyche.
Kaum war er mit dem Mädchen allein, ging er vor ihr in die Hocke,
damit er ihr direkt ins Gesicht sehen konnte. Dann begann er zu flüstern.
»Bitte hör mir jetzt ganz genau zu, Angelina: Ich habe deinen Bruder
entführt. Den kleinen Pedro, weißt du noch? Er ist so was von süß! Aber jetzt
werde ich ihn töten.«
Das Mädchen zeigte keinerlei Reaktion.
»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe? Ich werde ihn töten,
Angelia! Ich werde ihm das Herz aus der Brust reißen und es so lange in meinen
Händen weiterschlagen lassen, bis es nicht mehr pulsiert.« Der Jäger hielt ihr
seine offene Handfläche hin. »Hörst du, wie es klopft? Pedro wird sterben, und
niemand kann ihn retten. Außerdem werde ich ihm so richtig wehtun, das
versprech ich dir. Er wird sterben, aber nicht, ohne vorher Höllenqualen zu
leiden.«
Auf einmal machte das Mädchen einen Satz nach vorn und biss den
Jäger in die Hand. Der war dermaßen überrascht, dass er das Gleichgewicht
verlor. Angelina setzte sich auf seinen Brustkorb. Sie war nicht sehr schwer,
sodass er sie abwerfen und sich vor weiteren Bissen retten konnte. Der Jäger
sah, wie sie in ihre Ecke zurückkroch. In ihrem blutverschmierten Mund sah er
den scharfkantigen Gaumen, der sich in ihn hineingebohrt hatte. Obwohl das
Mädchen keine Zähne mehr hatte, war es ihm gelungen, dem Jäger eine tiefe Wunde
beizubringen.
Als Dr. Valdés zurückkam, bot sich ihr folgendes Bild: Angelina saß
seelenruhig in ihrer Ecke, während ihr Gast versuchte, mit seinem Hemd eine
blutende Wunde an der Hand zu stillen.
»Was ist passiert?«, rief sie schockiert.
»Sie ist auf mich losgegangen«, sagte der Jäger. »Aber es ist nicht
weiter schlimm. Ich muss nur genäht werden.«
»So etwas hat sie noch nie gemacht!«
»Ich weiß auch nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin nur auf sie
zugegangen, weil ich mit ihr reden wollte.«
Florinda Valdés fragte nicht weiter nach. Vielleicht weil sie Angst
hatte, dass es sonst kein Stelldichein mehr mit Dr. Foster geben würde. Der
Jäger hingegen hatte keinen Grund, noch länger zu bleiben: Da es ihm gelungen
war, das Mädchen zu provozieren, wusste er, was er wissen wollte.
»Vielleicht sollte ich mich lieber von einem Arzt untersuchen
lassen«, sagte er und machte ein übertrieben schmerzverzerrtes Gesicht.
Die Ärztin war ratlos: Sie wollte nicht, dass er einfach so verschwand,
wusste aber nicht, wie sie ihn aufhalten sollte. Sie bot ihm an, ihn in die
Notaufnahme zu begleiten, aber er lehnte höflich ab. Voller Verzweiflung sagte
sie: »Aber ich muss dir doch noch von dem anderen Fall erzählen …«
Dieser Satz verfehlte seine Wirkung nicht, und der Jäger blieb auf
der Schwelle stehen. »Von welchem anderen Fall?«
Dr. Valdés antwortete bewusst vage: »Er hat sich vor vielen Jahren
in der Ukraine zugetragen und betraf ein Kind namens Dima.«
DREI TAGE ZUVOR
3 Uhr 27
Der Tote begann zu schreien.
Erst, als die Lunge leer und er gezwungen war, Luft zu holen, merkte
er, dass es bloß wieder dieser Albtraum war: Devok war ein weiteres Mal
ermordet worden. Wie oft würde Marcus seinen Tod noch mitansehen müssen? Seine
am weitesten zurückreichende Erinnerung war eine Mordszene, die sich wiederholte,
sobald er die Augen schloss.
Marcus griff unter das Kissen und suchte nach seinem Stift. Als er
ihn gefunden hatte, schrieb er an die Wand neben dem Bett: »Drei Schüsse.«
Noch so ein furchtbares Echo aus seiner Vergangenheit. Aber
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