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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Krankenhausflure liefen. Damit war klar, dass sie
gewisse Gegenleistungen erwartete.
    »Weißt du, meine wissenschaftliche Neugier war nicht zu bremsen: Ich
habe die Koffer im Hotel gelassen und bin sofort hierhergeeilt. Wenn du nichts
dagegen hast, könnten wir anschließend zusammen essen gehen?«
    »Aber natürlich!« Valdés errötete und stellte sich schon die aufregenden
Wendungen vor, die dieser Abend noch nehmen konnte. Dabei hatte er gar kein
Hotelzimmer. Sein Flieger ging um acht.
    Die gute Laune der Ärztin stand im krassen Gegensatz zu dem Wimmern,
das aus den Krankenzimmern kam. Während sie daran vorbeigingen, hatte der Jäger
kurz die Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen. Ihre Bewohner hatten nichts
Menschliches mehr an sich. Ihre Gesichter waren so weiß wie die Kittel, die sie
trugen. Hinzu kam, dass sie wegen der Läuse kahl rasiert waren und unter starken
Beruhigungsmitteln standen: Sie liefen barfuß auf und ab, purzelten
übereinander wie Treibgut und trugen schwer an ihrer Last aus Ängsten und
Pharmagiften. Andere waren mit Ledergurten an schmutzige Betten gefesselt. Sie
strampelten wild um sich oder lagen reglos da und warteten auf einen Tod, der
unbarmherzig lange auf sich warten ließ. Es gab Alte, die aussahen wie Kinder,
und Kinder, die viel zu früh gealtert waren.
    Während der Jäger ihre Hölle durchquerte, sah ihn das dunkle Leid,
das sie zu Gefangenen ihrer selbst machte, aus weit aufgerissenen Augen an.
    Schließlich erreichten sie den Bereich, den Valdés die
»Spezialstation« nannte. Es handelte sich um einen Gebäudetrakt mit höchstens
zwei Patienten pro Zimmer.
    »Hier werden gewaltbereite Personen verwahrt, aber auch die
interessantesten klinischen Fälle … zu denen auch Angelina gehört«, fügte die
Psychiaterin stolz hinzu.
    Als sie vor einer Eisentür standen, die an die einer Gefängniszelle
erinnerte, gab Valdés einem Pfleger das Zeichen, aufzuschließen. Im Raum
dahinter war es dunkel, das wenige Licht kam durch ein kleines, weit oben
sitzendes Fenster. Der Jäger brauchte eine Weile, bis er die zierliche Gestalt
entdeckte, die dünn wie ein Strohhalm zwischen Wand und Bett kauerte. Das Mädchen
war höchstens zwanzig Jahre alt. Trotz ihrer leidgeprüften Züge hatte sie sich
noch einen Rest Schönheit bewahrt.
    »Das ist Angelina!«, verkündete die Ärztin marktschreierisch.
    Der Jäger ging ein paar Schritte nach vorn. Er konnte es kaum
erwarten, vor dem Ziel seiner Reise zu stehen. Aber die Patientin schien ihn
gar nicht zu bemerken.
    »Die Polizei hat sie in einem Bordell gefunden, in einem Dorf unweit
von Tijuana. Sie suchte nach einem Drogenboss und fand stattdessen dieses
Mädchen. Ihre Eltern waren Alkoholiker, und ihr Vater hat sie als Fünfjährige
an Zuhälter verkauft.«
    Am Anfang war sie bestimmt noch etwas sehr Kostbares gewesen, das
für Kunden reserviert war, die sich ihr Laster so richtig was kosten ließen,
dachte der Jäger.
    »Mit der Zeit hatte sie an Wert verloren, und die Männer bekamen sie
schon für wenige Pesos. Die Bordellbesitzer haben sie betrunkenen Bauern und
Lastwagenfahrern überlassen. Manchmal hatte sie zig Kunden am Tag.«
    »Die reinste Sexsklavin.«
    »Sie hat diesen Ort nie verlassen, war immer dort eingeschlossen.
Eine Frau hat sich um sie gekümmert, sie allerdings misshandelt. Sie hat nie
gesprochen, und ich bezweifle, dass sie überhaupt irgendwas mitbekommt. Sie
befindet sich in einer Art katatonischem Zustand.«
    Das ist ja geradezu ideal, wenn man die niedrigsten Instinkte dieses
Abschaums bedienen muss!, wollte der Jäger schon sagen, konnte sich jedoch eben
noch zurückhalten. Er musste so tun, als hätte er ein rein wissenschaftliches
Interesse an dem Fall. »Erzähl mir doch bitte, wie ihr auf ihre … Begabung
aufmerksam geworden seid.«
    »Als sie zu uns kam, teilte sie sich zunächst ein Zimmer mit einer
deutlich älteren Patientin. Wir dachten, wir stecken die Frauen zusammen, weil
sie beide keinerlei Bezug zur Außenwelt haben. Auch untereinander haben sie nie
kommuniziert.«
    Der Jäger riss sich mühsam vom Anblick des Mädchens los, um Valdés
anzusehen. »Und was ist dann passiert?«
    »Zuerst bekam Angelina ganz merkwürdige Bewegungsstörungen. Ihre
Gelenke wurden steif und schmerzten, sodass sie sich kaum noch rühren konnte.
Wir dachten, sie litte an einer Form von Arthritis. Aber dann sind ihr die
Zähne ausgefallen.«
    »Die Zähne?«
    »Nicht nur das: Wir haben sie untersucht und eine deutliche

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